Martin Heidenreich (Hrsg.): "Die Europäisierung sozialer Ungleichheit"
Zur transnationalen Klassen- und Sozialstrukturanalyse
Supranationale
Solidarität
Wenn man bedenkt, dass diese Veröffentlichung durch einen
Zuschuss der EU ermöglicht wurde, dann ist der Preis - nach alter Lesart rund DM
70 bzw. ATS 480 - schon stolz! Was ein wenig zynisch wirken mag ob des Themas,
welches eigentlich jeden Europäer interessieren sollte. Heidenreich und seine
Mitstreiter wollen "Zur transnationalen Klassen- und Sozialstrukturanalyse"
(Untertitel) Erkenntnisse sammeln und eventuell Strategien entwickeln. Die
sogenannte Ungleichheitsforschung (ja, auch so etwas gibt es!) muss ihr
Paradigma von national nach supranational, sprich europäisch (wenn nicht gleich
global) neu einjustieren: "Sowohl die Erzeugung und die Definition von
Ungleichheiten als auch der Umgang mit ihnen finden zunehmend in einer
europäischen Arena statt" (Heidenreich, Einleitung). Europa ist mittlerweile ein
"System der grenzüberschreitenden funktionalen Arbeitsteilung" (ebd.). Was ja
irgendwie auch schön klingt, ist die Implikation, dass sich Begriffe wie
Solidarität und Gerechtigkeit wandeln und erweitern, "weg vom mechanischen
Kollektivbewusstsein nationaler Gesellschaften hin zu organischer
Netzwerksolidarität auf europäischer Ebene" (ebd.). Interessant wird sein zu
beobachten, wie sich die Migrationsbewegungen auf die Ungleichheitsstruktur
auswirken, ebenso wie der sogenannte Demographische Faktor und das Problem der
zunehmend geringqualifizierten jungen Leute.
Während in den ärmeren
Ländern die Ungleichheit zurückgeht bzw. sich nach unten relativiert, steigt sie
in den industriell potenteren Staaten bzw. spreizt die Schere nach unten und
oben. Die nationalen Solidargemeinschaften stoßen zunehmend an ihre finanziellen
Grenzen, die Forderung nach einem einheitlichen europäischen System bei
Einkommen, Steuern, Sozialleistungen und Versicherungen wird von den politischen
Spitzen als illusorisch oder zumindest als nur sehr langfristig realisierbar
eingestuft. Die Herausforderung wird sein, inwiefern sich die durch
Europäisierung und Globalisierung erzeugten sozialen Ungleichheiten
vorübergehend national auffangen lassen, bis supranationale Instrumentarien und
Strukturen greifen. Dabei werden sich immer bürokratische und ethische
Vorstellungen im Weg sein. In seinem ersten Beitrag stellt Heidenreich etwa
illusionslos fest, es könne nicht erwartet werden, "dass sich auf europäischer
Ebene ähnliche Muster der sozialen Integration und der Regulierung von
Interessenunterschieden wie auf nationalstaatlicher Ebene entwickeln
werden."
Heidenreich wie auch die übrigen Beiträger untermauern ihre
Untersuchungen und Schlussfolgerungen mit detailliertem Zahlenmaterial.
Berücksichtigt werden sehr differenziert politische, wirtschaftliche, ethnische
und bürokratische Faktoren, die eine Übertragung vormals nationaler
Strukturlösungen (soweit es solche überhaupt gab) auf die europäische Ebene
blockieren bzw. gar verunmöglichen. Die historisch gewachsene Verbindung von
Marktwirtschaft und sozialstaatlicher Absicherung in den westlichen Ländern
lässt sich nicht problemlos umsetzen, da die Mitgliedsstaaten recht
unterschiedliche Entwicklungsstadien der Produktivität und
Wohlfahrtsorganisation aufweisen, die auch aufgrund regionaler Unterschiede nur
schwer anzugleichen sind. Wie lassen sich also effektive Formen sozialer
Integration auf europäischer Ebene finden, die auf nationaler Ebene nicht mehr
garantiert werden können?!
Steffen Mau konstatiert in seinem Beitrag eher
pessimistisch: "Jedem aufmerksamen Beobachter sollte einsichtig sein, dass
Europa weit davon entfernt ist, ein homogenes Gebilde zu werden." Inwiefern die
von Roland Verwiebe ins Spiel gebrachte "transnationale, mobilitätssoziologische
Perspektive" hier weiterhelfen kann, hängt von ihrem Horizont ab: betrachtet man
Migrationsbewegungen innerhalb Europas oder
über die imaginäre gesamteuropäische
Grenze hinweg. Und welche Rolle spielen die Migrationsbewegungen aus
unterschiedlichen sozialen Schichten. Max Haller spricht z.B. von "der Auflösung
der traditionellen Klassen und Schichten und der Durchsetzung einer Vielfalt
neuer, multidimensional differenzierter Lebenslagen und
-stile."
Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage einer gesamteuropäischen
Solidarität und unter welchen Bedingungen ein europäisches Wohlfahrtssystem
organisierbar wäre. Angelika Poferl geht u.a. der Frage nach, wie homogen in
sozialer und kultureller Hinsicht eine funktionierende Solidargemeinschaft sein
müsste - welche Identität könnte dieses neue Europa gewinnen?! Dabei geht es
eben um die "Durchsetzung von Solidarität im Sinne einer Politik der Würde und
Humanität."
Europa ist für uns eine Forderung geworden - die Frage ist
nur: eine Über- oder eine Herausforderung?! Das Problem zeigt sich in der
Realität wie auch in diesem Buch: Einerseits unterliegen die Menschen in den
europäischen Mitgliedsstaaten recht rigorosen Marktmechanismen - andererseits
gibt es eine Elite von Wissenschaftlern, die in sehr analyseträchtiger und
begriffsverliebter Attitüde ihre Forschungen am lebenden Objekt betreibt. Dabei
ist den Wissenschaftlern doch ein Vorwurf zu machen, sie bewegen sich eher in
selbstdefinierten und eigenreferenziellen Gefilden - die Befürchtung ist dabei,
dass die alltäglich in aller brutalen Banalität lebenden Menschen von diesem
wissenschaftlich schwerkalibrigen Werk wenig profitieren werden.
Eine
Europäisierung der Solidarität lässt sich nicht abstrakt-analytisch durchsetzen.
Es bedürfte eigentlich der Flankierung durch die Philosophie und die Ethik sowie
auch der
Kultur. Menschsein - egal ob deutsch, europäisch oder global - bedeutet
eben mehr als wirtschaftliche und wissenschaftliche Kategorisierung. Insofern
hat das vorliegende Buch durchaus seine Verdienste im materiell-analytischen
Bereich - für den ideell-existenziellen Aspekt fehlt die ergänzende Perspektive.
(KS; 04/2006)
Martin Heidenreich (Hrsg.): "Die Europäisierung
sozialer Ungleichheit"
Campus-Verlag, 2006. 363 Seiten.
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Noch ein
Buchtipp:
Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.): "Soziale Ungleichheit,
Kulturelle Unterschiede"
Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen
Gesellschaft für Soziologie in
München 20.
Der Kongress der Deutschen
Gesellschaft für Soziologie 2004 behandelte ein Thema von höchster Aktualität.
Während die Wahrnehmung kultureller Unterschiede, sei es als erstrebenswerter
Pluralismus oder Angst einflößende Bedrohung, in den letzten Jahren im
Vordergrund stand, rücken heute mit der Krise des
Sozialstaats die Probleme
sozialer Ungleichheit dramatisch in den Mittelpunkt des Interesses. Dieser
Kongressband enthält alle Vorträge der Eröffnungs- und Abschlussveranstaltung,
der Plena sowie die Mittags- und Abendvorlesungen. Dazu eine CD mit den
Referaten der zahlreichen Sektionssitzungen und Sonderveranstaltungen. Er bietet
damit eine Bestandsaufnahme des Wissens der
Soziologie über die drängendsten
Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft und soll dazu beitragen, die
Aufmerksamkeit und Sensibilität für Ungleichheitsprobleme zu schärfen.
(Campus-Verlag)
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