Egon Becker, Thomas Jahn (Hrsg.): "Soziale Ökologie"
Grundzüge einer Wissenschaft von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen
Wissenschaft und
Alltag
Ein gewichtiges Buch über die "Grundzüge einer Wissenschaft
von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen" (Untertitel) liegt hier vor als
kollektive Leistung der Forschungsgruppe im "Institut für sozial-ökologische
Forschung" (ISOE) in Frankfurt/Main. Geboten wird erstmals ein umfassender
Überblick über die Soziale Ökologie als Wissenschaft, ihre Entstehung aus einer
Vielzahl von Disziplinen und ihre Entwicklung zu einer integrierten
Umweltforschung. Mittlerweile gefördert durch das "Bundesministerium für Bildung
und Forschung" (BMBF) wurden eine Vielzahl von Forschungsergebnissen vorgelegt
auf den "gesellschaftlichen Handlungsfeldern" Mobilität, Ernährung,
Wasserversorgung, Raumentwicklung und Ressourcennutzung. Das Buch erläutert, wie
die Soziale Ökologie entstanden ist und warum eine derartige Wissenschaft von
den gesellschaftlichen Naturverhältnissen unverzichtbar ist.
In die
krisenhafte Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur sollen also Sensibilität
und Pragmatismus Eingang finden, damit der alte Fortschrittsglaube und die
neuere technische Rationalität nicht in pure Naturzerstörung ausarten. Gerade
weil Wissenschaft ethisch ambivalent ist, muss der Mensch sein Verhältnis zur
Natur neu überdenken: "Das wissenschaftliche Wissen soll in praktische Lebens-
und Handlungszusammenhänge eingebunden, in materielle Bedingungen und lokale
Praktiken eingebunden sein" (vgl. Einleitung). Diese neue Wissenschaft entstand
aus einem politisch-intellektuellen Krisendiskurs und versteht sich nun als
dynamischer Innovationsprozess, in dem eine neue transdisziplinäre
Forschungsmentalität dominiert. Dabei werden philosophische Fragen in
wissenschaftliche Probleme übersetzt. Im Grunde geht es darum, die Trias
Gesellschaft - Individuum - Natur in ein überlebensfähiges Verhältnis zu
bringen.
Die Natur wurde zu einer politischen Kategorie - die Belastung
der Umwelt soll durch technische, administrative, ökonomische und pädagogische
Maßnahmen eingeschränkt werden. Inzwischen hat man erkannt, dass Wissenschaft
und Technik sowohl als Krisenursache als Krisenprävention als auch als
Krisenbewältigung betrachtet werden müssen. Und so befindet sich die Soziale
Ökologie in dem Spannungsfeld, sich als Wissenschaft Anerkennung verschaffen zu
müssen, eine erkennbare Theorie zu entwickeln, die als praxisrelevant zu
rechtfertigen ist - und sich v.a. als lösungsorientiert darzustellen. Daraus
ergibt sich folgende offizielle Definition: "Soziale Ökologie ist die
Wissenschaft von den Beziehungen der Menschen zu ihrer jeweiligen natürlichen
und gesellschaftlichen Umwelt. In der sozial-ökologischen Forschung werden die
Formen und die Gestaltungsmöglichkeiten dieser Beziehungen in einer
disziplinübergreifenden Perspektive untersucht. Ziel der Forschung ist es,
Wissen für gesellschaftliche Handlungskonzepte zu generieren, um die zukünftige
Reproduktions- und Entwicklungsfähigkeit der Gesellschaft und ihrer natürlichen
Lebensgrundlagen sichern zu können" (BMBF)! Es wird eingeräumt, dass diese
Definition ergänzungsbedürftig ist - aber das liegt in der Natur einer
dynamischen Wissenschaft, die man auch als Suchbewegung verstehen
kann.
Die Soziale Ökologie bewegt sich als Wissenschaft in einem
Übergangsbereich zwischen Natur- und Sozialwissenschaften - verwandt mit ihr
sind die Nachhaltigkeits- und Technikforschung, die Energie- und Klimaforschung,
die Global-Change-Forschung und die Humanökologie. Für den Laien klingen manche
Differenzierungen oder gar Abgrenzungen eher befremdlich bis kontraproduktiv -
denn es kann kein isoliertes Forschen mehr geben auf allen Gebieten, die mit
Mensch und Umwelt zu tun haben! Wissen funktioniert heutzutage sozusagen
fachübergreifend und muss integrationsfähig sein. Denn wir Menschen sind sowohl
Natur- als auch Kulturwesen - in beide Richtungen müssen die analytischen
Methoden greifen.
Die hier vorstelligen Sozialökologen machen es sich
nicht leicht, sich in allen Varianten als Wissenschaft zu erklären bzw. sich
gegen aller möglichen Einwände zu verwehren, wenn sie die "Landkarte eines neuen
Feldes der Wissenschaft" erläutern. Man spricht von drei fundamentalen
Kritikperspektiven bei der Entwicklung der Sozialen Ökologie: der
gesellschaftskritischen, der feministischen und der ökologischen. Zwischen recht
weitschweifigen Rechtfertigungsexkursen gelangt man mitten im Buch zu der
Erkenntnis: "Erfolgreiche sozial-ökologische Problemlösungen müssen
alltagstauglich sein und sich in Tag für Tag ausgeübten Praktiken bewähren. Die
Kategorie Alltag besitzt somit eine Schlüsselbedeutung für die Soziale
Ökologie."
Da hat man die Kurve aber gerade mal noch so bekommen - denn
es stellt sich die Frage, für wen dieses Buch geschrieben wurde: als
selbstreferenzielle Gewissenserforschung, als Suada gegen lästernde
wissenschaftliche Konkurrenten, für aufgeschlossene Politiker - der naive Laie
wird hier jedenfalls durch die Fülle des Materials und die Übertriebenheit der
Artikulation überfordert.
Immerhin können wir uns die schöne Formel vom
"Denken und Handeln in Möglichkeiten" merken. Positiv klingt auch die Absicht,
"die Kluft zwischen getrennten Wissenskulturen und -praktiken" zu überbrücken.
Allein so kann der "besondere gesellschaftliche Mehrwert transdisziplinärer
Forschung" zugunsten der Praxis entstehen.
Im letzten Kapitel "Forschungszugänge" widmet sich das Buch konkreten Problemfeldern:
Wasser,
Konsum,
Ernährung, Mobilität, Bauen und Wohnen, Bevölkerungsentwicklung, Versorgungssysteme,
Gender & Environment. Dies sind die Gebiete, zu denen am ISOE (Ffm) geforscht
wurde und wird. In anderen Forschungseinrichtungen wird geforscht zu Energieversorgung,
Biodiversität, Landnutzung, Wald- und Forstwirtschaft sowie Küstenmanagement.
Alles in allem freilich ein
spannendes Buch, welches nur allzusehr mit Fachjargon übertreibt, als ob es
darum ginge, jemanden beeindrucken zu müssen. Liebe Forscher - letztendlich
müsst Ihr uns Bürger, Steuerzahler und Menschen davon überzeugen, dass unsere
Steuergelder nur für Forschungsprojekte vergeben werden, die unser tägliches
Leben erträglicher zu gestalten helfen. Und wenn da Buhlen um Anerkennung der
Wissenschaftlichkeit bedeuten soll, ob hier mit Seriosität gehandelt wird - dann
vermittelt uns das bitte im nächsten Zustandsbericht im leserfreundlichen Ton -
damit wir "normalen" Leser auch kapieren, warum Ihr und wofür wir "da" sind.
(KS; 06/2006)
Egon Becker, Thomas Jahn (Hrsg.): "Soziale
Ökologie"
Campus, 2006. 521 Seiten.
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Egon Becker, bis zu seiner
Pensionierung im Jahr 2000 Professor für Wissenschafts- und Hochschulforschung
an der Universität Frankfurt am Main, arbeitet seit der Gründung am Institut für
sozial-ökologische Forschung (ISOE) in Frankfurt am Main.
Thomas Jahn ist
Institutsleiter des Instituts für sozial-ökologische Forschung (ISOE) in
Frankfurt am Main.