Dirk Kaesler: "Aktuelle Theorien der Soziologie"
Von Shmuel N. Eisenstadt bis zur Postmoderne
Skizzen
zu einem künftigen Haus der Soziologie
Das Buch ist broschiert und 359
Seiten stark. Jedes der 14 Einzelkapitel beinhaltet eigene Anmerkungen und eine
Bibliografie. Ein Gesamtpersonenregister befindet sich am Ende des Buches. Die
einzelnen Kapitel sind in Leben, Werk und Rezeption gegliedert.
Der Herausgeber Dirk Kaesler
lehrt als Professor Soziologie an der Universität Marburg und ist auch
Herausgeber der ebenfalls bei C.H. Beck erschienen zweibändigen "Klassiker der
Soziologie" sowie Autor einiger Publikationen zu Max Weber.
Dieses Buch steht zusammen mit
den beiden ebenfalls von Dirk Kaesler herausgegebenen Bänden "Klassiker der
Soziologie" in direkter Konkurrenz zu der Einführungs-Reihe des UTB-Verlags.
Doch das freut die Leser, denn Konkurrenz belebt den Markt. Es freut den Leser
auch, dass beide Reihen broschiert sind und somit auch preisgünstig zu erwerben.
Im einleitenden Essay des
Herausgebers heißt es, das Buch stelle Diskussionsbeiträge bereit, "wie
die aktuellen und zukünftigen Baupläne des Hauses der Soziologie [...]
aussehen können". Die Beiträge des Buches über die aktuellen Theorien
werden dann zur Klassik hin abgegrenzt: "Die in diesem Band versammelten
Theorieansätze der Soziologie können nur verstanden werden auf dem Hintergrund
jener klassischen Beiträge, wie sie in den vorangegangenen beiden Bänden
dokumentiert wurden." Dieser Satz trifft den Kern, denn die Soziologie trat
zwar nicht das Erbe der
Philosophie an - wie von Auguste Comte angenommen -,
übernimmt aber deren Probleme und verstärkte sie nach Kräften. Während die
Philosophie sich auf die Suche begibt nach kulturbezogenen Werten und diese zur
Implementierung anbietet, steckt die Soziologie noch in den Analysen und
Beschreibungen der jeweiligen lokalen und temporalen gesellschaftlichen
Prozesse. Und genau diese lokale und temporale Beschränkung der zu
beobachtenden Prozesse macht es so schwierig, übertragbare Methodiken und
Erkenntnisse zu entwickeln. So ist es ungemein hilfreich, wenn ein erfahrener
Soziologe sich der Ordnung verschreibt und Theoretiker und Theorien
katalogisiert.
Der Titel lautet "Aktuelle Theorien der Soziologie", aber elf von vierzehn Kapiteln
sind mit den Namen teils noch lebender Personen betitelt. Das impliziert, dass
alle den jeweiligen Personen zugeordnet präsentierte Überlegungen Theoriecharakter
haben und dem Buchtitel gemäß aktuell sind. Einzig drei Kapitel sind mit Theorien
überschrieben:
"Googelt" man mit dem Begriff
"Neuere historische Soziologie", so erhält man exakt drei Treffer,
von denen zwei von dem Herausgeber selbst stammen.
Einige der Protagonisten der
Soziologie seien kurz präsentiert.
Zygmunt Bauman: u. a. Verfasser der Werke "Dialektik der Ordnung", "Flüchtige
Moderne" und "Vom Nutzen der Soziologie". Bauman setzte sich mit dem natürlichen
Bedürfnis der Menschen nach Überschaubarkeit und Ordnung auseinander.
Die Weimarer
Republik dürfte an diesen Begriffen gemessen keine Spitzenwerte erreicht haben,
was den Nazis die Sache erleichterte. Doch auch in der heutigen Welt können
diese Ansätze zur Anwendung kommen, wenn es darum geht, die Attraktivität des
geordneten sogenannten Kommunismus gegenüber dem freien Kapitalismus zu erklären.
Bedienen die Rechten und Linken letztlich dasselbe Grundbedürfnis? Auch der
Fußball zieht einen Teil seiner Attraktivität
aus dem Bedürfnis seiner Anhänger nach Ordnung, denn eine tabellarische Weltordnung
mit einem amtierenden Weltmeister macht diese Ersatzwelt so attraktiv, findet
der Rezensent schon seit langem.
Alain Touraine: Er entwarf neue Theorien zur Rolle der
industriellen Arbeiterschaft, untersuchte Mechanismen kollektiven Handelns (z.
B. Studentenbewegung, Anti-Kernkraft-Bewegung etc.) und entwarf eine Kritik der
Moderne. So glaubt er nicht, dass sich Gesellschaften entlang eines rationalen
Vektors weiter entwickeln und alte Fehler hinter sich lassen werden. So
bezweifelte er auch das notwendige Schwinden transzendentaler Bedürfnisse
entlang der Entwicklungslinie der Gesellschaft - quod erat demonstrandum. Er
tritt auch für eine Trennung von Politik und Zivilgesellschaft ein, da er in
einer idealen und direkten Demokratie aufgrund des gesellschaftlichen Drucks
wieder totalitäre Züge vermutet. Auch im Streit darüber, ob sich Werte
absolut (Vertragstheorie) oder im Kontext einer gelebten Gesellschaft (Kontraktualismus)
definieren, nahm er eine eigene Position ein. Es sind derzeit übrigens keine
aktuellen deutschen Bücher Touraines im Handel.
Michel Foucault: Ein Protoklassiker wegen seiner innovativen
Methodologie. Er befürwortet den türkischen EU-Beitritt, tritt aber auch für
das Kopftuchverbot an französischen Schulen ein.
Ulrich Beck: Der die postmoderne (globale) Wirtschaftsgesellschaft analysiert
und abnehmende wirtschaftliche und soziale Sicherheit
als Komplement der größeren Gestaltungsfreiräume begreift.
Jean Baudrillard: Der mit symbolischen Objektbezügen
provoziert und die Wirklichkeit für eine Instanz einer Simulationsklasse
ansieht. Ein Vorschlag zur Begrifflichkeit: Für den vom Autor mit referieren
verwendeten Sachverhalt verwenden Informatiker übrigens den Begriff referenzieren.
Hartmut Esser: Nach den Mechanismen des Rational Choice müsste
man ein Computermodell entwerfen können, das menschliches Handeln auf Mikro-
und Makroebene vollständig simuliert. Aber in dieser schönen neuen Welt gäbe
es keine Wirtshäuser und keine Kirchen - und vermutlich auch keine Menschen.
Fazit:
Es verunsichert mich als älteren
Herrn die starke Amerikanisierung der Soziologie (und der Welt). Wenn schon ein
interkultureller Wertekanon nicht vereinbar ist, wie kann denn eine globale
Soziologie funktionieren? Können soziologische Theorien überhaupt so lange in
der Luft bleiben, um den Atlantik zu überwinden? Es wäre wünschenswert, wenn sich
wieder eine deutschsprachige Soziologie entwickelte, auf dass die Hauptwerke der
Theoretiker im Buchhandel auf Deutsch erhältlich sind. Das wäre eine lohnende
Aufgabe für einen Herausgeber.
Aber: "Die Sprache der
Soziologie ist Englisch", schrieb der Herausgeber in seiner Einleitung.
"Englisch und soziologisch", möchte man ergänzen. Einige der Autoren
arbeiten an einer neuen soziologischen Hermeneutik, doch zum Glück nicht alle,
denn viele Kapitel sind sehr gut lesbar.
Zum Schluss sei ein
vergleichender Blick auf Annette Treibel-Illians Werk "Einführung in
soziologische Theorien der Gegenwart" aus dem UTB-Verlag geworfen. Als
interessierter Laie vermutete der Rezensent, weitgehend ähnliche Namen und
Begriffe in beiden Werken anzutreffen, doch da täuschte sich der interessierte
Laie. Hier ist die Struktur des Buches:
Makrotheorien: Luhmann, Habermas,
Offe, Wallerstein, Beer, Bielefelder Ansatz.
Mikrotheorien: Homans, Opp, Colemann.
Ansätze zur Überwindung des
Mikro-Makro-Dualismus: Habermas, Elias, Bourdieu, Beck, Giddens, Bilden,
Hannoveraner Ansatz. Thürmer-Rohr, Hochschild.
Die Herren Wallerstein und Beck
sind auch in Kaeslers Buch vertreten, aber Offe, Beer, Opp, Bilden, Thürmer-Rohr
und Hochschild sind nicht einmal im Namensregister erwähnt. Namen wie Luhmann,
Habermas, Elias oder Bourdieu finden sich jedoch in den beiden Klassiker-Bänden
des Herausgebers. So präsentiert sich das vorliegende Buch wie ein Ergänzungsband
zu den beiden Klassiker-Bänden, doch so deutet es der Herausgeber in der
Einleitung auch an.
Ceterum censeo: Ein Numerus wie "eine Vielzahl" (S. 158), "eine ganze
Reihe" (S. 159) oder "eine Reihe von" (S. 181) wirkt mit einem
Verb im Singular einfach besser, selbst wenn der Duden den Plural auch
vorsieht.
(Klaus Prinz; 12/2005)
Dirk Kaesler: "Aktuelle Theorien der
Soziologie"
C.H. Beck, 2005. 359 Seiten.
ISBN 3-406-52822-8.
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Weitere Bücher des Autors / Herausgebers (Auswahl):
"Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung"
Dirk Kaesler diskutiert in dieser Einführung die zentralen methodologischen
Positionen Max Webers und bezieht sich auf dessen wichtigste Arbeiten auf den
Gebieten der Agrar-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Antike und des
Mittelalters sowie seine Studien zur Sozial- und Wirtschaftsverfassung des
wilhelminischen Deutschlands und die Schriften zur Religionssoziologie. (Campus)
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"Klassiker der Soziologie. Band 1: Von Auguste Comte bis Norbert Elias"
(C.H. Beck)
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"Klassiker der Soziologie. Band 2: Von
Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu"
Von Auguste Comte, dem "Gründervater" der Soziologie, bis zu Frankreichs
Soziologieprimus Pierre Bourdieu stellen diese beiden Bände Leben, Werk und
Wirkung der großen Soziologen dar. Ausgewiesene Sachkenner eröffnen mit diesen
Porträts einen vorzüglichen Einblick in die Geschichte und die wichtigsten
theoretischen Konzepte der Soziologie. Aus dem Inhalt: Auguste Comte / Vilfredo
Pareto Georg Simmel / Emile Durkheim / Max Weber / Robert Michels / Norbert
Elias / Alfred Schütz / Talcott Parsons / Theodor W. Adorno / Arnold Gehlen /
Helmut Schelsky Raymond Aron / Erving Goffman Niklas Luhmann / Jürgen Habermas
/ Pierre Bourdieu. (C.H. Beck)
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Zwei weitere Buchtipps:
Annette Treibel: "Einführung in soziologische Theorien der
Gegenwart. Einführungskurs Soziologie Bd. 3"
(UTB)
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Martina Löw: "Soziologie der Städte" zur Rezension ...
Leseprobe:
Wir nennen die hier versammelten vierzehn theoretischen Ansätze insgesamt
"post-klassisch". Um bestimmen zu können, was "post-klassische
Theorien" in der wissenschaftlichen Soziologie sein sollen, sei erneut und
knapp über die Bestimmung "klassischer" Beiträge jeder Art, so eben auch
in der Soziologie, nachgedacht.
Nicht zuletzt auch aus wissenschaftssoziologischem Interesse beschäftigt uns
die Frage: Wie kommt es, daß das Werk eines Menschen auf eine solche Weise
eingestuft wird, daß es mit dem Etikett "klassisch" versehen wird? Diese
Frage betrifft keineswegs die Wissenschaft allein, und die Soziologie schon gar
nicht in besonderer Weise. Jedoch bleibt diese Frage gerade in den Geistes-,
Kultur- und Sozialwissenschaften unverändert und ganz besonders virulent, sie
spitzt sich gegenwärtig in mancherlei Hinsicht sogar noch zu. Die abwehrende
Distanz gegenüber den Ideen und Begriffen der toten, weißen Männer der nördlichen
Halbkugel, wie sie den bisherigen Klassikern der Soziologie gegenüber an
manchen Orten gepflegt wird, scheint eher größer und vehementer zu werden. Das
immer noch vorherrschende Übergewicht der soziologischen Theorien, die in europäischen
und nordamerikanischen Kontexten entwickelt wurden, erzeugt Widerstände
innerhalb der soziologischen Forschungsgemeinschaft in Lateinamerika, Asien und
Afrika. Auch die Herausforderung durch eine Islamische Soziologie, wie sie auch
bei den Tagungen der International Sociological Association immer vehementer
repräsentiert wird, führt insgesamt zur Verstärkung der Bemühungen um eine
"nicht-westliche Soziologie", deren Konturen noch nicht klar erkennbar sind.
Wer solche aktuellen Entwicklungen aufmerksam verfolgt und ernst nimmt, erkennt,
wie bedeutsam die Auseinandersetzung mit den bisherigen Klassikern der Soziologie
ist. Auch in der wissenschaftlichen Soziologie erscheint es als geradezu unmöglich,
eine bedeutsame theoretische oder empirische Leistung zu erbringen, ohne Kenntnis
des Vorhergedachten und bereits Gefundenen. Darum ist gute Soziologie nur möglich
auf der Basis der selbst erarbeiteten Auseinandersetzung mit den Erträgen der
Klassiker des Fachs. Um den Gefahren sowohl der ständigen Neuerfindung des (soziologischen)
Rades als auch der ewigen Redundanz zu entgehen, kommt den wenigen, erfolgreich
beendeten Versuchen der theoretischen "Verdichtungen" fachgeschichtlich eine
so hervorgehobene Bedeutung zu. Wir begegnen ihnen in historisch bewährten Hauptwerken
der Soziologie, so etwa bei Alfred Schütz mit Der sinnhafte Aufbau der sozialen
Welt (1932), bei Talcott Parsons mit The Structure of Social Action
(1937) und bei Jürgen
Habermas mit dessen Theorie des kommunikativen Handelns (1981). Und
auch in der Gegenwart verzeichnen wir immer wieder solche Versuche der theoretischen
Verdichtung, von denen hier allein auf das, weiter unten behandelte, Großvorhaben
von Hartmut Esser mit seiner Soziologie in sieben Bänden verwiesen sei.
Gerade weil alle solche Theoriesynthesen das Feld der soziologischen
Theorieproduktion zu schließen versuchen, weswegen ihnen dann häufig
der
Vorwurf des Eklektizismus gemacht wird, provozieren sie zugleich auch
immer
wiederkehrende Versuche, dieses Feld erneut zu öffnen. Und schon
entstehen
immer aufs Neue die Vorhaben eines entschiedenen Gegenvokabulars, wie
wir das
historisch beispielsweise bei Georg Simmel, Niklas Luhmann und
gegenwärtig
sowohl bei Zygmunt Bauman finden, der die Notwendigkeit einer
"Protosoziologie" reklamiert, als auch bei Ulrich Beck, der kritisch
von den
"Zombie-Kategorien" der soziologischen Klassiker redet. Die
Unmöglichkeit
"der" soziologischen Theorie, im Sinne einer einheitlichen Theorie
einer
Wissenschaft vom Sozialen, als "der" Wissenschaft von der
Vergesellschaftung
des Menschen, ist für die einen das Ärgernis unserer Disziplin
schlechthin, für
die anderen verkörpert eben dieses Charakteristikum die eigentliche
Freude und
das eigentliche, schöpferische Potential dieses Fachs. (...)