Sieglinde Rosenberger, Emmerich Tálos
(Hg.):
"Sozialstaat. Probleme, Herausforderungen, Perspektiven"
"Die Expansion des Sozialstaates hat in den Nachkriegsjahrzehnten zur Entwicklung moderner Gesellschaften beigetragen und individuelle Freiheit sowie materielle Teilhabechancen vieler Menschen ermöglicht. Sicherheit bedeutete im 20. Jahrhundert vor allem auch soziale Sicherheit."
Das
Thema könnte nicht brisanter sein. Europaweit formieren sich in diesen Tagen Protestbewegungen
gegen einen internationalen Trend des Sozialabbaus. Endgültig vorbei scheinen
die Zeiten sozialpartnerschaftlicher Konsenspolitik. Ein neuer Typus neoliberaler
Provenienz fordert unter Hinweis auf tatsächliche oder behauptete Finanzierungsengpässe
die Abschlankung staatlicher Aufgaben und eine Neuausrichtung des Sozialstaats,
im Sinne eines immer nur in Kategorien von Kürzungen gedachten Rückbaus, orientiert
am klassischen Modell karitativer Armenfürsorge.
Das Autorenteam rund
um die Herausgeber Sieglinde Rosenberger und Emmerich Tálos machten es sich in
der publizierten Schriftenreihe zur Aufgabe, Probleme, Herausforderungen und Perspektiven
für eine zeitgemäße Sozialpolitik zu ergründen. Denn wenn auch das "goldene Zeitalter"
des Ausbaus von Sozialstaaten offenbar passé ist, so kann man doch nicht ernstlich
behaupten das Armutsproblem im Griff zu haben. Immerhin sind auch in unserer Epoche
materiellen Überflusses 11 Prozent der Österreicher armutsgefährdet und 4 Prozent
tatsächlich arm. Ohne Sozialstaat wären es rund 40 Prozent, womit die Bedeutung
des Sozialstaats für das gesellschaftliche Funktionieren an sich eindrucksvoll
verdeutlicht wäre.
Ein gewisser Reformbedarf wird seitens des Autorenkollektivs
keineswegs bestritten. So stellt natürlich der demografische Wandel, dessen Kennzeichen
der "Alterungsprozess" der Bevölkerung ist, eine unmittelbar anstehende Herausforderung
an die finanzielle Sicherung der Altersvorsorge dar. (Das bedeutet für Österreich:
Die Anzahl der Personen im Alter von 65 Jahren und älter wird von 1.268.992 im
Jahr 2000 auf 2.138.846 im Jahr 2030 steigen.) In diesem Sinne gilt es den Sozialstaat
umzubauen, aber nicht abzubauen.
Die Frage der Finanzierung des Sozialstaats
ist schlussendlich ein politischer Willensakt, da ökonomisch noch allemal eine
Finanzierbarkeit gegeben ist. Und selbst die Besorgnis erregende Prognose der
Überalterung - immer weniger Erwerbstätige müssen immer mehr Altersrentner erhalten
- basiert an und für sich auf einem simplen und somit im Grunde nur sehr eingeschränkt
gültigen Modell der Erwerbsquote, denn entscheidend ist letztlich immer noch die
Produktivität der Erwerbstätigen und nicht in welchem zahlenmäßigen Verhältnis
diese zu den nicht Erwerbstätigen stehen. Zum Vergleich möge man sich vergegenwärtigen,
dass im Jahr 1900 das Verhältnis von
Landwirten zu
Lebensmittelkonsumenten 1:3
betrug, hingegen heute das Verhältnis 1:80 beträgt. Und das bei erheblich verbesserter
Versorgung der Bevölkerung mit landwirtschaftlichen Produkten.
Ein besonderes Augenmerk wenden die Autoren dem Phänomen der
Globalisierung
zu, welche als Intensivierung bestehender Austauschbeziehungen zwischen Staaten,
Gesellschaften etc. begriffen werden kann. Neoliberale Politikkonzeptionen verweisen
unter Bezugnahme auf Globalisierungsprozesse gerne auf den damit einhergehenden
Verlust von Steuerautonomie, was bei sodann geschrumpfter Finanzierungsbasis
zwangsläufig sozialpolitische Einschränkungen nach sich ziehen müsste. Und dies,
obwohl die mit der Globalisierung einhergehenden Destabilisierungen eingestandenermaßen
eigentlich den Ausbau von sozialstaatlichen Absicherungen erfordern würden,
was ein klassisches Dilemma sei. Der These vom Globalisierungsdilemma entgegnet
Martin Seeleib-Kaiser in seinem Beitrag "Globalisierung und Sozialstaat" vermittels
einer sachlichen Diskussion von vier möglichen Wirkungsweisen von Globalisierung,
die verdeutlicht, dass Wohlfahrtsstaaten keineswegs quasi unabwendbar ihre Zielsetzung
nach einem relativ hohen Maß an staatlich vermittelter sozialer Gerechtigkeit
auf dem Altar des Neoliberalismus opfern müssten. Es gibt durchaus Alternativen
zur Antistaatsphilosophie des Neoliberalismus und wer meint, der Globalisierungsprozess
ließe einer verantwortlichen Politik keine andere Wahl als die der Entstaatlichung,
der beschränkt sich gar auffällig in seiner Problemlösungskapazität und argumentiert
in etwa sehenden Auges an der Schule der varieties of capitalism vorbei, welche
lehrt, dass die Unterschiede der verschiedenen Formen des Kapitalismus fortbestehen
bleiben werden, da sie jeweils spezifische institutionelle Wettbewerbsvorteile
hervorbrächten, die durch die Globalisierung sogar noch verstärkt würden.
Eher spezifisch
österreichisch liest sich die "Nachlese" zum Sozialstaatsvolksbegehren, obgleich
auch diese Betrachtungen dem an politischer Taktik interessierten Leser Anschauungsunterricht
über das bewusst zurückhaltende Verhaltensmuster einer neoliberalen Regierung
gegenüber Sozialinitiativen gibt.
Das vorliegende Buch untergliedert sich
in vier Themenbereiche, welche im Einzelnen "Europäische Entwicklungen", "Österreichische
Entwicklungen", "Das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren" und "Reformperspektiven"
abhandeln. Zwischendurch wird der Leser mit Grundprinzipien und aktuellen Umsetzungsformen
von Sozialpolitik in Österreich und anderswo (in England und in den ehemals sozialistischen
Ostblockstaaten) vertraut gemacht, aber auch zum Beispiel ganz allgemein über
neoliberale Ideologie aufgeklärt, welche mittels Privatisierung und Entstaatlichung
diverse Individualisierungs- und Differenzierungsprozesse forciert und all dem
eine - im Grunde metaphysische - Denkfigur individueller Freiheit unterlegt, die
dem Starken oder dem Rücksichtslosen verlockend erscheinen mag, den Schwächeren
jedoch in seiner Existenz ernstlich bedroht. Fairness als normativer Bezug erweist
sich bei näherem Hinsehen als Chimäre.
Besonders interessant, weil zukunftsweisend,
liest sich das von Univ. Prof. Emmerich Tálos ausgeführte abschließende Kapitel
über die "Bedarfsorientierte Grundsicherung". Im Unterschied zu neoliberalen und
christlich-sozialen Modellen geht es hierbei in erster Linie nicht um den Abbau
von Sozialbürokratie (neoliberales Modell) oder um Schaffung und Sicherung von
materiellen Freiräumen und die Überwindung von materiellen Abhängigkeiten ("Grundeinkommen
ohne Arbeit"; Büchele/Wohlgenannt 1985), sondern die eigentliche Zielsetzung
ist, festgestellte Versorgungsdefizite sozialstaatlicher Leistungssysteme zu beheben.
Dieses in Österreich mittlerweile von allen Linksparteien unterstützte Modell
einer bedarfsorientierten Grundsicherung verlangt vom erwerbsfähigen Leistungsbezieher
die Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt (christliche Kritiker sprachen in diesem
Zusammenhang auch schon von "Arbeitszwang") und zielt nicht wie das neoliberale
Modell darauf ab, das bestehende - vergleichsweise verwaltungsaufwendige - System
der Sozialversicherung letztendlich zu ersetzen. Denn dieses Modell befindet die
bestehenden sozialen Sicherungssysteme grundsätzlich für tauglich und wünscht
keine radikale Abwendung vom geltenden Arbeitsethos.
Übrigens, die Höhe der
monetären Grundsicherung würde nach dem "Grünen" Modell (Stand 1997) für Erwachsene
mit ATS 6.000 bzw. EUR 436 (plus im Durchschnitt ATS 2.000 bzw. EUR 145 Wohngeld)
zu veranschlagen sein. Eine Geldsumme, die sich als Differenzbetrag zum niedrigeren
Einkommen des Leistungsbeziehers versteht, dessen grundsätzliche Arbeitswilligkeit
vorausgesetzt wird.
Bedarfsorientiert bedeutet weiters, dass der Vermögende
keinen Anspruch auf diese Grundsicherung hat, da er dessen als Vermögender eben
nicht bedarf.
Der vorliegende Sammelband zum Sozialstaatthema versteht
sich alles in allem betrachtet als engagiertes Schrifttum in einer Zeit eskalierender
Konflikte um staatlich garantierte Mindeststandards. Ein kämpferisches Buch, verfasst
von einem Autorenkollektiv, das zu seiner linken Gesinnung steht und mit visionärer
Kraft Reformperspektiven zum herrschenden neoliberalen Trend andenkt.
(Harald S.; 05/2003)
Sieglinde Rosenberger, Emmerich Tálos (Hg.):
"Sozialstaat.
Probleme, Herausforderungen, Perspektiven"
Mandelbaum, 2003. 200 Seiten.
ISBN 3-85476-088-4.
ca. EUR 14,-.
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