Adrienne Goehler: "Verflüssigungen"
Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft
Menschsein durch
Kultur
Mit dem vorliegenden Buch möchte die Autorin 'Wege und Umwege
vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft' (Untertitel) aufzeigen, weil sie meint,
dass die "kreative Klasse" (Richard Florida) in Wissenschaft und Kunst eine viel
wichtigere Rolle einnehmen müsste bei der Umgestaltung unserer Gesellschaft.
Heute schon arbeiten in den Kulturberufen mehr Menschen als etwa in der
Automobilindustrie, und die Zahl der Museumsbesucher liegt in Deutschland fast
zehnmal so hoch wie die Zahl der Besucher von Bundesligaspielen. Die Autorin
möchte unser Denken "verflüssigen", um starre Strukturen aufzubrechen und die
Kultur als künstlerisch-inspirierende aber auch ökonomisch-relevante Kategorie
voranbringen.
Die Intellektuellen sollen sich wirksamer einbinden
(lassen) in gesellschaftliche Prozesse - denn woher sollen die neuen Ideen
kommen, "wenn nicht von denen, die als Künstler, Literaten, Schöpfer um den Sinn
und die Sinne ringen?" Dazu gibt es noch einen klugen Satz von
Albert Einstein:
"Wir können die Probleme nicht mit demselben Denken lösen, das sie
hervorgebracht hat." Für gesellschaftliche Veränderungen brauchen wir auch
Medien, die sich stärker als "Diskussionsforum für gesellschaftliche und
ökonomische Alternativen zum Bestehenden" begreifen. Einer Kulturgesellschaft
müsste es weniger darum gehen, bestehende Mängel zu reparieren, als vielmehr
neuartige Alternativen zu entwerfen und zu gestalten!
Kultur ist das, was
über das bloß Instrumentelle hinaus gesellschaftlich positiv besetzt ist (vgl.
Cornelius Castoriadis) - aber damit ist noch überhaupt nichts über das Niveau
gesagt! Kultur ist bewusste Gestaltung des Lebens. Möglicherweise ist der
zentrale Satz dieses Buches (und des restlichen Lebens) folgender: "Der Weg von
einer Gemeinschaft, die vom Einzelnen mehr notwendige Selbstaufgabe als mögliche
Selbstverwirklichung verlangt, hin zu einer Gesellschaft, in der die Freiheit
des Einzelnen vor den Zwängen der Allgemeinheit geschützt und ein
Interessenausgleich geschaffen wird, führt über die Kultivierung der
Gesellschaft." Die Frage ist, wie man von einem lenkenden Staat zu einer
denkenden und tätigen Gesellschaft kommt, wie man die Kultur aus ihrem
subventionierten Reservat herausholt.
Goehler sieht die Künste und die
Wissenschaften als conditio sine qua non einer zivilisierten
Gesellschaft. Beide sind an Veränderungen interessiert, an Perspektiven - beide
rühren an Tabus. Grundsätzlich geht es um "multidimensionale und experimentelle
Denkweisen, die auch die unterschiedlichen Bereiche von künstlerischer,
sozialer, technischer und ökonomischer Kreativität miteinander verbinden."
Während im ökonomischen Bereich die Produktivität mit immer weniger menschlicher
Arbeitskraft steigt, wäre die Chance damit eröffnet, dass immer mehr Menschen
ihre Kreativität sozusagen praktizieren.
Wenn man nicht ganz weltfremd
sein will, muss man auch folgende Aussage akzeptieren: "Kultur, Kunst und
Wissenschaft sind die kreativen Motoren ökonomischer Entwicklungsfähigkeit." Im
übrigen verwischen sich für den kreativen Menschen die Grenzen zwischen Arbeit
uns Freizeit ohnehin. Die Freiheit des Künstlers besteht eigentlich darin, dass
er in einer scheinbar chaotischen Disposition ununterbrochen mit seinen Ideen
umzugehen hat. Und witzigerweise haben neuere Studien zu der Prognose verführt,
dass die Arbeitsplätze der Zukunft im kreativen Bereich liegen.
Was
überhaupt nicht unterschätzt werden sollte: Kultur und Wissenschaft sind - im
Gegensatz zu Politik und Ökonomie - sinnstiftend. Goehler reklamiert dabei die
"Disfunktionalität von Kunst und Wissenschaft" - beide verunsichern, um mit
Verunsicherungen besser umgehen zu können. Das Buch ist insgesamt sehr
animierend, weil engagiert diverse Thesen und Theorien diskutiert werden, dazu
liefert Goehler etliche, auch aktuelle Beispiele aus der Praxis. Sie denkt dabei
auch an die "interkulturelle Relevanz" der Künste und Wissenschaften - an einen
globalen "Geist der Freiheit und Säkularität".
Neue, offene Konzepte sind
erforderlich - wobei Goehler Leidenschaft statt Pädagogisierung fordert. Das Leben ist ohnehin als Experiment zu sehen, bei dem immer wieder neue Reize zu
setzen sind, neue Entwürfe gewagt werden müssen. Wir sollten uns lösen von
zögerlichem Sekuritätsdenken und purem ökonomisch orientiertem Pragmatismus.
Kunst und Wissenschaft werden eine öffentliche Dynamik entwickeln, welche der
Politik abhanden gekommen ist. Individuum und Gesellschaft werden erst
menschlich durch Kultur.
(KS; 03/2006)
Adrienne Goehler:
"Verflüssigungen"
Campus-Verlag, 2006. 250 Seiten.
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