Vladimir Sorokin: "LJOD"
Das Eis
In einem Lagerhaus
bei Moskau: Zwei Männer und eine Frau laden zwei gefesselte Männer aus dem Auto,
binden sie an Stahlpfeiler. Dann holen sie einen Hammer hervor, dessen Stiel aus
Holz, dessen Kopf aus nichts Anderem als blankem Eis besteht, reißen einem der
beiden Gefesselten das Hemd auf, es ertönt ein "Gib Antwort!", und der Eishammer
fährt mit voller Wucht auf das freigelegte Brustbein nieder. Blut fließt,
Eissplitter spritzen, aber keine Antwort erfolgt. Die ganze Prozedur wiederholt
sich einige Male, bis der Gefolterte, dem übrigens der Mund verklebt ist, tot an
dem Pfeiler hängt.
Brutalität ist
wesentlicher Bestandteil von Sorokins "Ljod. Das Eis", sei es als nackte Gewalt
wie in der eben geschilderten ersten Szene des Buches, als Rigorosität und
Funktionalität des Handelns, als naturalistische Moskauer Milieuschilderung oder
als ungeschönte Verwendung der gesprochenen Alltagssprache. Dem steht in starkem
Spannungsverhältnis das Hauptthema gegenüber, Ljod, das von dem 1908 in Sibirien
niedergegangenen
Tunguska-Meteoriten
stammende Eis mit seinem
andersartigen Kristallgitter, dessen Fähigkeit, die Menschen zum wahren Leben zu
erwecken und ihre verhärteten Herzen zu öffnen keinen Vergleich mit den großen
Heiligen unserer Erde zu scheuen braucht. Die drei obigen Folterer sind demgemäß
keineswegs gemeine Sadisten; die Antwort, die sie erhoffen, ist eben diese, dass
die Herzen der von ihnen Behämmerten zu sprechen beginnen: direkte Schwingungen
von Herz zu Herz, kein Umweg über die Stimmbänder. Wird diese Hoffnung nicht
erfüllt, ist ein banaler und schmerzhafter Tod die Folge, sind hingegen nach dem
soundsovielten Hammerschlag des Herzens Vibrationen zu vernehmen, wird das
Hämmern sofort eingestellt, der Verwundete wird versorgt und erfährt, dass er
als neuer Bruder oder neue Schwester in eine höchst elitäre Sekte (außer zum
wahren Leben erwacht müssen die Mitglieder auch blond und blauäugig sein,
außerdem ist ihre Zahl auf 23000 limitiert) aufgenommen ist.
Im ersten Teil bzw.
ersten Buch werden exemplarisch drei solche Neuzugänge, ein Student, eine
Prostituierte und ein Geschäftsmann, geschildert. Ziemlich unabhängig von
sozialen und sonstigen Unterschieden ergibt sich bei allen dreien ein ähnlicher
Verlauf: zunächst das Scheitern der Versuche, mit einem Vertrauten über den
schockierenden Vorgang des Behämmertwerdens zu sprechen, das Geschehene abzutun
und mit dem üblichen Leben fortzufahren, dann der Zusammenbruch des letzteren,
welcher von einem langanhaltenden Weinkrampf eingeleitet wird, "Tränen der
Trauer und der Scham über ein zurückliegendes totes Leben", das
Eingeliefertwerden in ein Krankenhaus, welches von der Sekte kontrolliert wird,
und schließlich das freudige Akzeptieren des Eintritts in die Sekte. Bei den
auch psychologisch sehr klar und realistisch beschriebenen Abwehrmechanismen
gegen die sich erhebende Stimme des Herzens und dem Einblick in die
verschiedenen Moskauer Gesellschaftsschichten kommt die vielleicht größte Stärke
von Sorokin voll zur Geltung: das virtuose Beherrschen der verschiedenen
Mundarten, die in direkter Rede niedergeschrieben den Geisteszustand des
Sprechenden, seine Konditionierungen und Schwächen, nicht zuletzt ein
erklecklich Maß an Entfremdung und Zynismus schonungslos offenlegen. Je mehr sich die
Handlung allerdings dem Herzen nähert (also etwa die gesamte Beziehung der
Sektenmitglieder untereinander), desto weniger vermag sich das Beschriebene in
der Sprache zu spiegeln. Tatsächlich muss man sagen, dass es Sorokin gar nicht
versucht, echte Spiritualität zu vermitteln; stattdessen lässt er eine Fülle von
esoterisch-religiösen Fachausdrücken und Motiven (Erwachen zum wirklichen Leben,
Sprache von Herz zu
Herz, Verwandlung in Licht etc.) aufmarschieren, die in ein
freches Spiel mit andersartigen (politischen, sexuellen, rassischen etc.)
Elementen verstrickt über einen hohen Provokationswert verfügen und in ihrer
hohlen Äußerlichkeit letztlich auf ihre mangelnde Authentizität
verweisen.
War der erste Teil
abgesehen von der häufigen Verwendung der direkten Rede in der dritten Person
gehalten, lässt im zweiten Teil bzw. zweiten Buch eine Frau, das älteste lebende
Sektenmitglied, welches noch dazu als eines der wenigen sämtliche 23 Worte der
Herzenssprache beherrscht, ihr Leben Revue passieren. Auch hierbei ist ein
Widerspruch offenkundig, jener zwischen ihrer Position als reifes, in führender
Position tätiges Sektenmitglied und der betont kindlichen (und sehr an den
glänzenden Roman "Die Tochter der
Hündin" von Pavlos Matessis erinnernden)
Sprache, mit der sie den Kindheitsteil ihres Lebens erzählt. Für sich allein
genommen handelt es sich um ein amüsantes tragikomisches Stück Prosa, das seinen
besonderen Reiz daraus bezieht, ein naives, unverdrossenes Mädchen von seinen
Erlebnissen inmitten der Nazizeit erzählen zu lassen, seiner Kindheit in einem
kleinen russischen Dorf, der deutschen Besatzung und ihrer Verschleppung als
Zwangsarbeiterin, ehe sie schließlich zum erfolgreichen Erwachen ihres Herzens
geklopft wird. Als Erwachsene passt sich die Sprache dem Alter an, erhält dafür
einen dem Auserwähltsein gemäßen himmlisch-pathetischen Tonfall. Um möglichst
viele neue Mitglieder zu finden ist es notwendig, den ständigen Nachschub des
Tunguskameteoriteneises sicherzustellen, weswegen man die Sektenmitglieder damit
beschäftigt findet, hohe Posten in der sowjetischen Nomenklatur, nicht zuletzt
direkt im Geheimdienst, zu erwerben. Dabei werden die verschiedenen Perioden der
sowjetischen bzw. russischen Geschichte in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts von einer ungewöhnlichen, besonders russisches
Geschichtsverständnis mit Genuss vor den Kopf stoßenden Perspektive erlebt.
Die Teile 3 und 4
bzw. Bücher 3 und 4, die zusammen nur mehr gute 30 Seiten ausmachen, führen das
Thema des herzenerweckenden Eises in Gegenwart und Zukunft. Wieder lässt Sorokin
verschiedene Stimmen und Tonfälle quer durch die heutige russische Gesellschaft
ertönen; zahlreiche Leserbriefe berichten davon, wie der erste Versuch mit dem
Wellness-Set "Ljod" für die Schreiber ausgefallen ist. Das Tunguska-Eis kann
nämlich mittlerweilen künstlich hergestellt werden und dürfte sich den in großer
Mehrheit positiven, ja begeisterten Rückmeldungen nach zu schließen zu einem
Megaverkaufsschlager entwickeln. Man entnimmt der Kühlbox eines der 23 Eisstücke und
befestigt es am Stiel, daraufhin wird das strombetriebene Hämmerchen an das mit
einem Schild gewappnete Brustbein der Konsumenten geklopft, verursacht nach
einiger Zeit Mitleidsausbrüche, Weinkrämpfe (für die Tränenflut wird von der
Firma ein eigener automatischer Tränenabsauger mitgeliefert) und endet mit der
Vision von 22999 nackten Geschwistern, gebadet in, sich wandelnd zu,
Licht. Nach dieser geballten Ladung Satire wechselt das
fünfseitige 4. Buch noch einmal die Tonart und weist dezent auf den
tatsächlichen Zustand der Menschheit hin.
Vladimir Sorokins "Ljod. Das Eis",
als Gesamtkunstwerk vielleicht weniger überzeugend als einzelne Passagen, darf
jedenfalls für sich beanspruchen, einen neuen Finger auf eine alte Wunde gelegt
zu haben.
(fritz; 08/2003)
Vladimir Sorokin: "LJOD. Das Eis"
(Originaltitel "Ljod")
Aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Gebundene Ausgabe:
Berlin Verlag, 2003. ca. 224 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Berliner Taschenbuch Verlag, 2005.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Der himmelblaue Speck"
Zur Rezension ...
Theorien zu den Ursachen des
Tunguska-Ereignisses
Das Gebiet um den
Fluss "Steinige Tunguska", einen Nebenfluss des Jenissej,
in der sibirischen Taiga wurde in den frühen
Morgenstunden des 30. Juni 1908 von einer gigantischen Explosion, deren Ursache
bis heute ungeklärt ist, erschüttert. War es ein über der Erdoberfläche
explodierter Komet, ein Asteroid, Antimaterie gar, oder ein abgestürztes
Raumschiff Außerirdischer?
Riesige Flächen (etwa 2000 km²) wurden verwüstet,
Bäume wurden entwurzelt oder auch geknickt und verbrannten, eine enorme
Druckwelle umlief den Planeten zweimal, schwere seismische Erschütterungen
wurden gemessen, und mehrere Tage und Nächte lang wurde es aufgrund der in hohe
Atmosphärenschichten geschleuderten Staubpartikel und Wassertröpfchen in ganz
Europa nicht dunkel ("weiße Nächte").
Bislang wurden in dem Sumpfgebiet
jedenfalls keinerlei Überreste außerirdischen Ursprungs gefunden, zudem waren
die Angaben der damaligen Augenzeugen oft widersprüchlich; sie ergaben keine
eindeutigen Schlussfolgerungen. Berichtet wurde von Donnerschlägen, Erdstößen
sowie einem Feuerball und Lichtblitzen.
Überdies blieb der verwüstete
Landstrich viele Jahre lang unerforscht; so fand die erste Expedition unter
Leonid Kulik, (der unbedingt und ausschließlich die Richtigkeit der
Meteoritentheorie
beweisen wollte), erst 1927 statt.
Für die Einwohner der Region jedoch war
bereits am 30. Juni 1908 klar, dass der im Kampf verfeindeter Nachbarstämme von
Schamanen beschworene Donnergott der Ewenken, Agdy, hinter all den Erscheinungen
steckte, und sie erklärten das Gebiet für tabu.
Andere Theorien besagen, dass die Explosionen - es sind angeblich mehrere Zentren nachweisbar -
vulkanische, also zutiefst irdische Ursachen hatten, zumal kein Einschlagskrater
ausfindig gemacht werden konnte. Der Austritt gewaltiger Erdgasmengen, die sich
entzündeten, wäre eine vorstellbare Ursache. Immerhin liegt das Gebiet über
einer tektonisch aktiven Spannungszone und birgt angeblich große
Erdgasvorkommen. Einigen Berichten zufolge waren bereits an den Tagen vor der
gewaltigen Explosion optische Phänomene über Sibirien zu sehen gewesen, was zur
Hypothese vom ausströmenden Erdgas passen würde.