Vladimir Sorokin: "BRO"


Brillant geschriebener Roman

Wie viele Erwählte wird es am Tag des Jüngsten Gerichts wirklich geben? Möglicherweise 144.000 - eine Zahl, von der die Zeugen Jehovas restlos überzeugt sind. Oder ist die Anzahl variabel und umschließt alle diejenigen, die es sich aus ganzem Herzen wünschen - und sich dementsprechend verhalten haben? Laut Vladimir Sorokins Roman "BRO" beträgt die Zahl der Erwählten genau 23.000, denn dereinst wurde das aus 23.000 Strahlen bestehende Ursprüngliche Licht gebrochen und fiel auf die Erde. Dort manifestiert es sich in ebensovielen Menschen, die allerdings nichts von ihrer Berufung wissen und deren einzige, wenn auch rein äußerliche, Gemeinsamkeit in blauen Augen und blonden Haaren besteht. Die "Erleuchtung" der Unwissenden ist ebenso denkbar simpel wie brutal und schmerzhaft: Man hämmert ihnen unter Aufbietung aller Kraft mit einem Hammer, dessen Kopf aus Eis besteht, auf den Brustkorb, bis sich das Herz des Auserwählten öffnet.

Dabei darf es sich jedoch nicht um irgendein Eis handeln, sondern es muss von dem in Sibirien am 30. Juni 1908 nahe dem Fluss Tunguska eingeschlagenen, interstellaren Eisbrocken stammen. Diese Zusammenhänge werden dem am selben Tag geborenen Studenten Alexander Snegirjow in einem Erweckungserlebnis offenbart, als er 1928 mit einer Expedition die Einschlagstelle aufsucht. Wie von einem Magneten wird er von einem See angezogen. Er schwimmt hinaus, einigt und läutert sich mittels des Bades, und entdeckt als Einziger den Standort des Eismeteors, hört eine innere, wie in Herzschlägen pulsierende Stimme, die ihm seinen neuen Namen gibt: BRO.

Nun macht sich Bro auf den Weg, um diese 23.000 verlorenen Seelen zu finden, zu erwecken und zu vereinigen. Sorokin erzählt von der abenteuerlichen Suche Bros, seinen Rückschlägen, aber auch von der inneren Befriedigung, die ihn und seine neuen Gefährten erfüllt, wenn wieder ein Auserwählter gefunden werden konnte. Dabei dienen ihm die erzählten Lebensläufe als Vexierbild für die im Hintergrund mitlaufende Geschichte Russlands; berichtet wird über Krieg, Revolution, Stalins Gulags. Dergestalt vorbereitet, erstaunt es den Leser nicht besonders, dass es von Stalins Gewaltherrschaft 1931 nach Deutschland geht - wo sonst findet man gehäuft blonde und blauäugige Eleven.

Hammerharte Initialisierungsriten einer Sekte
Utopien erfreuen sich gerade in unsicheren Zeiten gesteigerter Beliebtheit. Geht man von dem derzeitigen literarischen Schaffen gewisser Autoren aus, scheint es, als lebten wir in einer solchen. Als Beispiele seien hier Philip Roths "Verschwörung gegen Amerika", Doris Lessings "Die Geschichte von General Dann" und Michel Houellebecqs "Die Möglichkeit einer Insel" angeführt. Auch Sorokin vermittelt ein Bild der besten aller Welten, doch kann man seine literarischen Mittel durchaus als bedenklich bewerten.

Unbestritten sind die literarischen Qualitäten des russischen Autors, doch bedarf ein Literat derart drastischer Ausdruckmittel, um ein Publikum zu bekommen? Stellenweise lesen sich seine Werke wie eine Mischung aus Jean-Christophe Grangé und Tolstoi, wobei die Mengenanteile schwanken.

Man kann den Roman natürlich auch als logische Konsequenz und Gegenbewegung zur etablierten Hochliteratur betrachten, denn die Qualitäten des Romans sind unbestreitbar: Die Figuren sind vielschichtig, die Weltanschauung sowie die Abwertung Andersdenkender ist durchdacht und glaubhaft, die Lebensläufe als Analogie zur geschichtlichen Entwicklung sind perfekt eingepasst, und doch ... fragt man sich: Ist das nötig? Handelt es sich um aufrüttelnde Provokation oder das kalkulierte Gehabe eines enfant terrible, um den Versuch, sich als russischer Houellebecq zu etablieren?

Nötig hat Sorokin das nicht, denn sein Roman zählte unbestreitbar zu den herausragenden literarischen Neuerscheinungen des Frühjahrs 2006. Tröstlich ist nur, dass "BRO" nicht mehr ganz so sehr in krassen Bildern schwelgt wie der Vorgängerroman, und dass Sorokins Bilder so erschüttern, liegt eben daran, dass sein Schreibstil sehr plastisch und eindringlich ist.

(Wolfgang Haan; 03/2006)


Vladimir Sorokin: "BRO"
(Originaltitel "Put' Bro")
Aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Berlin Verlag. 256 Seiten.
Gebundene Ausgabe bei amazon.de bestellen
Taschenbuch bei amazon.de bestellen

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Der Tag des Opritschniks"

Eine ungemein kraftvolle und kühne literarische Satire auf das heutige Russland, die aber im Jahr 2028 in einem autoritär-nationalistischen, von einer Clique Geheimpolizisten regierten Russland spielt, das sich durch eine Mauer vom Westen abschottet. (Heyne)
Buch bei amazon.de bestellen

"23000"
Vladimir Sorokin, der große russische Stilist, versteht es wie kein Anderer, seine Umwelt zu provozieren. So auch im letzten Band seiner viel beachteten "LJOD"-Trilogie. In "23000" schildert er die letzten Tage einer Sekte, der Bruderschaft des Lichts, die kurz vor der Erfüllung ihres kosmischen Plans steht. Sorokin hat eine packende Gesellschaftsutopie geschrieben - und damit nichts weniger als eine treffende Diagnose unserer Zeit.
Die Auserwählten der Bruderschaft wissen: Die Erde ist allein im Universum, sie ist ein Unikum. Und der Homo sapiens ist ein Unikum hoch zwei oder drei. Wenn dem aber so ist, muss man die Erde als Störfall ansehen, als Schandfleck am Leib des Universums. Als Erweckte des Lichts sind sie fast am Ziel, diesen missratenen Himmelskörper, diese von Sex und Gewalt verdorbene Erde, für alle Zeit auszulöschen - um selbst als 23 000 Strahlen in die körperlose Ewigkeit einzugehen. Dabei sprechen ihre erweckten Herzen von Liebe und meinen doch nur rohe Gewalt, Mord und die Vernichtung allen Lebens. Wer sich ihnen in den Weg stellt, endet im automatisierten Albtraum kapitalistischer Verwertungsketten. Auch im letzten Band der viel diskutierten "LJOD"-Trilogie schwingt Sorokin den Eishammer. In einer Welt der Reproduktion und des Konsums lässt er Heilversprechen, Erweckungsfantasien und den Wahn kommerzialisierter Glückssuche ungebremst aufeinanderkrachen. Einmal Thriller, einmal Gangsterroman, dann wieder lyrisch-pathetischer Hymnus - Sorokin zieht erneut alle Register seines enormen sprachlichen Repertoires. Er spielt in seinem schon legendär gewordenen Mimikry-Stil mit Sprache und Genres und beweist einmal mehr sprachliche Gewandtheit, erzählerische Bravour und einen ausgeprägten Sinn für das Absurde. (Berlin Verlag) zur Rezension ...
Buch bei amazon.de bestellen