Susan Sontag: "Worauf es ankommt"
Essays
Dokumente eines hellen,
kritischen Verstandes
Wenn man den Eurovision
Song Contest voller Spott und Eifer betrachtet, aber kein Jahr von ihm lassen
kann, wie nennt man die Faszination, der man dabei unterliegt? Es ist der Charme
des "Camp", ein Begriff, den Susan Sontag 1966 in einem Essay geprägt
hat. Camp hieß früher Kitsch und wird heute, dreißig Jahre später, auch bei
uns als "kultig" übersetzt und seit einigen Jahren auch in
Deutschland so gesehen. Seither gibt es in der Kunst nicht nur Gutes oder
Schlechtes, sondern auch Kultiges - was ich für einen großen Fortschritt halte.
Über die Jahre betrachtet verkörpert Susan Sontags Erstlingswerk Begabung und
Defizite dieser im Dezember 2004 verstorbenen Ausnahmeschriftstellerin wie kein
zweites. Ihre umfassende kulturelle Bildung und ihr klarer, analytischer
Verstand, die jeden europäischen Feuilletonchef beschämen müssen, erklären
den Weltruhm, den sich das "Gewissen Amerikas", wie sie gerne genannt
wurde, seither erschrieben hat. Sontag lebte immer, was sie fühlte. Auf dem Höhepunkt
des Vietnamkrieges ging die langjährige New Yorkerin nach Hanoi, aus Opposition
zum Bosnienkrieg folgte sie ihrem Sohn in das zerbombte Sarajewo nach und lebte
dort drei Jahre.
Im Lauf der Jahrzehnte hat Sontag immer wieder die Diskussion zu Themen der Zeit
befeuert. Zuletzt boten die Essay-Sammlungen "Aids und seine Metaphern"
(deutsch 1989) und "Das Leiden anderer betrachten" (deutsch 2003)
Anlass zu heftigen kulturpolitischen Kontroversen. Die Frau, die George W. Bush
den "Robotic President" nannte, erhielt im Jahr 2003, am Höhepunkt
der Irak-Debatte in Deutschland, den renommierten Friedenspreis des Deutschen
Buchhandels.
Susan Sontags Schwächen zeigten sich immer dann, wenn sie nur auf ihre
Kreativität baute. Auch in dem neu aufgelegten Band von Aufsätzen "Worauf
es ankommt" blitzt wieder Stolz auf bezüglich der Einmaligkeit von Romanen
wie "Der Liebhaber des Vulkans". Die Liebesgeschichte von Admiral
Nelson und Lady Hamilton, der Frau des englischen Gesandten, im Italien des 18.
Jahrhunderts wurde allerdings von nicht wenigen Lesern aufgrund "blutleerer
Charaktere", "bescheidener Handlungsstränge" und "schlampiger
historischer Recherche" abgelehnt. Wo ihre Essays immer wieder große
Aufmerksamkeit und hymnische Zustimmung erfuhren, betrachtet Sontag diese selbst
im Rückblick durchaus kritisch. Diese Divergenz zwischen Selbstbild und Wirkung
zieht sich durch das Schaffen der Autorin: Abgesehen vom Roman "In Amerika"
(2001), der auch auf dem Markt ein Erfolg war, blieb die Rezeption ihres künstlerisches Werks eher mau,
ganz im Gegensatz zur Anerkennung ihrer politischen Haltung. Das betrifft auch
ihre Arbeit als Theatermacherin. Als sie 1993 im kriegsumtosten Sarajewo
Becketts "Warten auf Godot" aufführen ließ, blieb davon die
politische, nicht die künstlerische Botschaft im Bewusstsein der Öffentlichkeit
übrig.
Die neue Sammlung von Essays "Worauf es ankommt" zeigt, dass Susan Sontag in
diesem Bereich Weltliteratur geschrieben hat und beweist, dass sie aufgrund
der Aufsätze zu den bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts zählt. Es ist
eine Sammlung von Beiträgen für Zeitschriften, die der Verlag inhaltlich in
die Abschnitte Lesen, Sehen und Dort und Hier gegliedert
hat. Schon der erste Beitrag, eine Huldigung der Autorin Marina Zwetajewa, zeigt
Sontags Stärken: Die Einfühlsamkeit in fremde Texte, der große literarische
Horizont, der sie mühelos auf die Werke so unterschiedlicher Autoren fern auseinanderliegender
Epochen wie
Coleridge,
Molière, Joyce
oder Brodsky zugreifen und daraus
das Passende zitieren lässt, und die Benutzung poetischer Bilder zur Gewinnung
von Erkenntnissen.
Es ist ein weit verbreitetes Phänomen, dass Autoren mit zunehmender Kenntnis
der Arbeiten
anderer
Autoren etwas an Originalität verlieren wo sie an Durchblick und Übersicht
gewinnen. Das scheint besonders auf Susan Sontag zuzutreffen. Sie war schon
als Kind eine leidenschaftliche Leserin, wie sie in ihrer "Hommage an Halliburton",
einen amerikanischen Reiseschriftsteller, gesteht. Ihr Geschmack war dabei breit
gestreut, was ihr erlaubt, Neues und Unerwartetes zu europäischen Klassikern
wie Robert Walser
oder Witold Gombrowicz zu sagen. Gombrowicz' "Ferdydurke" gehört zu meinen Lieblingsbüchern,
und Sontags Aufsatz zu "Ferdydurke" zum Treffendsten, das ich jemals über das
Buch gehört habe. Das ist schon erstaunlich für eine Autorin, deren Prägung
und tägliches Leben so weit von Europa und seinen Befindlichkeiten entfernt
war.
Susan Sontags Interessen gingen aber weit über Bücher hinaus. Sie war eine
leidenschaftliche Kinogängerin und kann so in ihrem Essay "Ein Jahrhundert
Kino" einen Abriss des Filmschaffens aller Kulturen im Laufe des 20.
Jahrhunderts aus dem Ärmel schütteln. Auch ein Essay mit dem Titel "Hundert
Jahre italienische Photographie" macht ihr keine Mühe. Sontag zu lesen
zeigt einem sehr schnell die Grenzen des eigenen Wissens und Erinnerungsvermögens
auf.
Der schönste Artikel des Bandes ist ihre Betrachtung der Flüssigkeiten im Werk
Richard Wagners am Beispiel der Oper Tristan
und Isolde, die sie mit den Worten beginnt: "Wasser, Blut, Wundbalsam, Zaubertrank
- Flüssigkeiten spielen in Wagners Mythologie eine entscheidende Rolle." Nun
beginnt ein Feuerwerk an Informationen und Analysen. Als erstes beweist sie,
dass die sie Handlungen aller Wagneropern kennt. Dann hebt sie zu einer psychologischen
Analyse der Verwendung der Flüssigkeiten in ihnen an. Es folgt eine Kulturgeschichte
des Liebestranks, unter anderem mit Hinweis auf das Werk Donizettis und germanisch-keltische
Mythologie. Sontag beschreibt die Erstaufführung von Tristan und Isolde,
über Wagners Gedanken und Motive der Handlung, wie Berlioz darauf reagierte,
wie sich Tristan und Isolde mit Parzival vergleichen lässt, erwähnt, dass Walt
Whitman einmal schrieb, ohne die Oper hätte er nie seine Leaves of Grass
verfassen können, und was Bruno Walter eines Tages auf dem Heimweg von der
Oper zu Thomas Mann sagte, nämlich: "Das ist nicht einmal mehr Musik." Mit zahlreichen
Anekdoten und Deutungen dringt Sontag dann bis zum Werk von Philip Glass und
der Oper Einstein on the Beach vor, immer luzide, belehrend und unterhaltend.
Ich kenne keinen Autor, der imstande wäre, auf diesem Niveau zu schreiben. Dazu
kommt noch Folgendes: Sontag war Teil der Elite New Yorker Intellektueller,
wo Wagner vor allem von jüdischen Autoren mit Hinweis auf Hitlers Wagner-Begeisterung
und den Holocaust meist ablehnend betrachtet wird. Für Sontag existieren diese
Kategorien nicht. Sie interessiert der Mensch, das Werk, die Rezeption gestern
und heute und der Einfluss auf andere Kunstschaffende.
Die an Brustkrebs erkrankte Autorin hat 1978 einen langen Essay geschrieben, für
mich ihr schönstes Werk. Er heißt: "Krankheit als Metapher", ist ein
leidenschaftliches Plädoyer dafür, Krankheit nur als Krankheit zu sehen, und
nicht als Strafe oder Schande, und beginnt mit diesen einleitenden Worten:
"Krankheit ist die Schattenseite des Lebens. Hier wird Mitgliedschaft zur Bürde.
Jeder, der geboren ist, hatte eine doppelte Staatsbürgerschaft, sowohl im Königtum
der Gesundheit wie auch im Königtum der Krankheit. Obwohl wir es alle
vorziehen, nur den guten Reisepass zu benutzen, zwingen uns die Umstände
mitunter, wenn auch vorübergehend, dazu, uns zum Heimatrecht des anderen Ortes
zu bekennen. Ich möchte hier nicht beschreiben, was es heißt, in das Königreich
der Krankheit auszuwandern und es sich dort häuslich einzurichten, nichts
Geographisches also. Ich möchte den dortigen Nationalcharakter entlarven, seine
unangenehmen und sentimentalen Seiten. Deshalb werde ich nicht über die
Krankheit selbst sprechen, sondern über die Metapher Krankheit, und ihren
Gebrauch. Beweisen will ich damit, dass Krankheit keine Metapher ist, und die beste Einstellung zur Krankheit die, sich möglichst der
Sichtweise zu enthalten, Krankheit würde etwas bedeuten oder ausdrücken. Und
doch kann man sich kaum vorurteilslos im Land der Krankheit aufhalten. Man wird
sofort zugeschüttet mit reißerischen Metaphern, von denen es übersät ist.
Deshalb muss man sie sich mit diesen Bildern oder Un-Sinnbildern beschäftigen,
um sie eins nach dem anderen aufzulösen."
Der Text symbolisiert Susan Sontags Kampf gegen den Krebs, den sie vor einem
Vierteljahrhundert begann und bis ins 71. Lebensjahr siegreich bestand. Er ist
Dokument des Triumphs des Verstandes und der Sprache über die Krankheit des Körpers.
Die kosmopolitische, sich aus allen Hochkulturen nährende Erzählhaltung Susan
Sontags ist es, was den besonderen Genuss der Lektüre ihrer Aufsätze ausmacht.
Für die Qualität der Autorin ist diese postum erschienene Sammlung ein glänzendes
Beispiel.
(Berndt Rieger; 03/2005)
Susan Sontag: "Worauf es
ankommt"
(Originaltitel "Where the Stress Falls")
Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius u.a.
Hanser, 2005. 454 Seiten.
ISBN 3-446-16019-1.
ca. EUR 26,70.
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Susan Sontag, geborene Rosenblatt,
kam am 16. Jänner 1933 in New York zur Welt. Sie begann ihren Berufsweg 1959
als Mitherausgeberin der Zeitschrift "Commentary" und hielt in den 60er Jahren
Vorlesungen in Englisch und Philosophie. 1963 veröffentlichte sie mit "The Benefactor"
ihren ersten Roman. Später führte sie in einigen Filmen Regie und verfasste
Essays, Kurzgeschichten und Kritiken. Große Verdienste erwarb sie sich als Vermittlerin
der europäischen, insbesondere der deutschen Literatur. Sontag war oft umstritten.
So stand sie nach dem 11. September 2001 im Zentrum der us-amerikanischen Kritik,
weil sie die Kommentierung des Attentats auf das World Trade Center in New York
als eine Kampagne von Politikern und Medien bezeichnete, die das Ziel habe,
die Öffentlichkeit zu verdummen. "Where is the acknowledgment that this was
not a 'cowardly' attack on 'civilization' or 'liberty' or 'humanity' or 'the
free world' but an attack on the world's self-proclaimed superpower, undertaken
as a consequence of specific American alliances and actions?" schrieb sie in
"The New Yorker". ("Wo ist die Anerkennung dessen, dass dies nicht ein 'feiger'
Anschlag auf die 'Zivilisation' oder die 'Freiheit' oder die 'Menschlichkeit'
oder die 'freie Welt', sondern
ein Angriff auf
die selbsternannte Weltsupermacht war, unternommen als Konsequenz spezifischer
amerikanischer Allianzen und Handlungen?" - Red.)
Susan Sontag lebte in langjähriger Partnerschaft mit der berühmten Fotografin
Annie Leibovitz.
Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):
"Das Leiden anderer betrachten"
Fünfundzwanzig Jahre nach ihrem Epoche machenden Essay "Über
Fotografie" beschäftigt sich Susan Sontag mit dem Thema Kriegsfotografie:
Sie rekapituliert die historische Entwicklung, nennt die Vorläufer der
Dokumentaristen des Krieges und revidiert ihre einstige Ansicht, dass der Mensch
durch solche Bilder abstumpfe. Im Gegenteil: "Das Bild sagt: setz dem ein
Ende, interveniere, handle. Und dies ist die entscheidende, die korrekte
Reaktion."
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"Krankheit als Metapher & Aids und seine Metaphern"
Die beiden berühmten Essays Susan Sontags über "Krankheit als
Metapher" und "Aids und seine Metaphern" in einem Band
zusammengefasst. Thema dieser Beiträge ist die Rolle, die Krankheit (und Aids)
in unserer Fantasie spielen als Metapher von Urteilen und Vorurteilen.
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"Im Zeichen des Saturn"
In diesem Band werden Intellektuelle und Künstler vorgestellt, die das kulturelle
Bewusstsein des 20. Jahrhunderts prägend beeinflusst haben: Paul Goodman,
E.M.
Cioran, Antonin Artaud,
Leni
Riefenstahl,
Walter Benjamin, Hans-Jürgen Syberberg,
Roland Barthes und
Elias Canetti.
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"Todesstation"
Keiner weiß, warum der Zug im Tunnel plötzlich hält. Der Werbeleiter Diddy
steigt in der Dunkelheit aus und trifft dort auf einen Streckenarbeiter, der ihn
in Streit und eine Schlägerei verwickelt, in deren Verlauf Diddy ihn tötet.
Hat er ihn wirklich getötet? Hester, ein blindes Mädchen im Abteil, schwört,
dass er den Zug nie verlassen hat. Was sieht die Blinde, das dem Sehenden
verschlossen bleibt? "Obwohl es sich weder um meine eigene Geschichte
handelt noch um die eines Menschen, den ich kenne, ist 'Todesstation' vielleicht
das Intimste, was ich an erzählender Prosa geschrieben habe." (Susan
Sontag).
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"Der Liebhaber des Vulkans"
Die skandalöse Liebesgeschichte zwischen Lady Hamilton, der Frau des britischen
Gesandten in Neapel, und Lord Nelson, dem britischen Seehelden, steht im
Mittelpunkt dieses farbenprächtigen Romans vom Ende des 18. Jahrhunderts. Susan
Sontag hat am Fuße des feuerspeienden
Vesuvs Menschen zusammengeführt, die das
Drama des Umbruchs in Europa exemplarisch aufführen.
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Leseprobe:
13. Juni 1996
New York
Lieber Borges,
da Ihre Literatur immer im Zeichen der Ewigkeit stand, mag es als nicht allzu
seltsam erscheinen, wenn ich einen Brief an Sie richte. (Borges, es ist schon
zehn Jahre her!) Wenn je ein Zeitgenosse für literarische Unsterblichkeit
bestimmt schien, dann waren es Sie. Sie waren in großem Maße das Produkt Ihrer
Zeit, Ihrer Kultur, und doch verstanden Sie sich darauf, Ihre Zeit, Ihre Kultur
auf eine Weise zu transzendieren, die ganz zauberisch anmutet. Das hatte etwas
mit der Offenheit und Großzügigkeit Ihrer Hinwendung zu tun. Sie waren der am
wenigsten egozentrische, transparenteste aller Schriftsteller, wie auch zugleich
der kunstreichste. Es hatte auch etwas mit einer natürlichen Reinheit des
Geistes zu tun.
Obwohl Sie recht lange Zeit unter uns gelebt haben, haben Sie Gepflogenheiten der
Sorgfalt und der Unvoreingenommenheit vervollkommnet, die Sie auch zu einem
kundigen Reisenden des Geistes in andere Epochen machten. Sie hatten einen
Zeitsinn, der sich von dem anderer Menschen unterschied. Die normalen
Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schienen unter Ihrem
Blick banal. Sie sagten gern, dass jeder Moment der Zeit die Vergangenheit und
die Zukunft beinhalte, indem Sie (wie ich mich erinnere) den Dichter Browning
zitierten, der ungefähr geschrieben hat: "Die Gegenwart ist der Augenblick, in
dem die Zukunft zur Vergangenheit zerfällt." Das war natürlich Teil Ihrer
Bescheidenheit: dass Sie gern Ihre Gedanken in den Gedanken anderer
Schriftsteller wiederfanden.
Ihre Bescheidenheit war Teil der Gewissheit Ihrer Gegenwart. Sie waren ein
Entdecker neuer Freuden. Ein so profunder, so gelassener Pessimismus wie der
Ihre konnte von Empörung absehen. Er musste eher erfinderisch sein - und Sie
waren vor allem erfinderisch. Die Gelassenheit und die Selbsttranszendenz, zu
denen Sie gefunden haben, sind für mich beispielhaft. Sie haben gezeigt, dass
man nicht unglücklich sein muss, selbst wenn man einen klaren Blick und keine
Illusionen hinsichtlich dessen hat, wie schrecklich alles ist. Irgendwo haben
Sie gesagt, dass ein Schriftsteller - taktvoll haben Sie hinzugefügt: alle
Menschen - denken muss, dass alles was einem zustoßen kann, eine Ressource
ist. (Sie haben dabei an Ihre Erblindung gedacht.)
Sie sind für andere Schriftsteller eine große Ressource gewesen. 1982 - also
vier Jahre vor Ihrem Tod - habe ich in einem Interview gesagt: "Es gibt keinen
heute lebenden Schriftsteller, der mehr für andere Schriftsteller bedeutet als
Borges. Viele würden sagen, dass
er der größte lebende Schriftsteller ist (...). Nur sehr wenige Schriftsteller
unserer Zeit haben nicht von ihm gelernt oder ihn nachgeahmt." Das gilt immer
noch. Wir lernen immer noch von Ihnen. Wir ahmen Sie immer noch nach. Sie haben
den Menschen neue Weisen des Imaginierens gegeben, während Sie wieder und wieder
erklärten, wieviel wir der Vergangenheit verdanken, vor allem der Literatur.
Sie haben gesagt, dass wir der Literatur fast alles schulden, was wir sind und
was wir gewesen sind. Wenn Bücher verschwinden, wird die Geschichte verschwinden,
und die Menschen werden ebenfalls verschwinden. Ich bin sicher, dass Sie recht
haben. Bücher sind nicht nur die beliebige Summe unserer Träume und unser Gedächtnis.
Sie bieten uns auch das Vorbild für Selbsttranszendenz. Manche Leute halten
Lesen bloß für eine Art von Flucht: eine Flucht aus der "wirklichen" Welt des
Alltags in eine imaginäre Welt,
die
Welt der Bücher. Bücher sind viel mehr. Sie sind eine Art und Weise, ganz
und gar Mensch zu sein.
Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Bücher jetzt als eine gefährdete Gattung
gelten. Mit Büchern meine ich auch die Bedingungen des Lesens, die Literatur
und ihre Wirkung auf die Seele ermöglichen. Bald, so sagt man uns, werden wir
uns jeden "Text" auf einen "Bücherschirm" abrufen, und wir werden in der
Lage sein, sein Erscheinungsbild zu verändern, Fragen an ihn zu stellen, mit
ihm in "Interaktion" zu treten. Wenn Bücher zu "Texten" werden, mit denen
wir gemäß Nützlichkeitskriterien in "Interaktion" treten, wird das
geschriebene Wort schlicht zu einem weiteren Aspekt unserer von der Werbung
gesteuerten televisuellen Realität. Das ist die glorreiche Zukunft, die
geschaffen wird und uns verheißen wird als etwas "Demokratischeres". Es
bedeutet natürlich nichts Geringeres als den Tod der Innerlichkeit - und des
Buches.
Dann wird es nicht mehr nötig sein, eine große Feuersbrunst zu entfachen. Die
Barbaren brauchen die Bücher nicht zu verbrennen. Der Tiger ist in der
Bibliothek. Lieber Borges, bitte verstehen Sie, dass es mir keine Befriedigung
bereitet zu klagen. Doch an wen wären solche Klagen über das Geschick von Büchern
- des Lesens selbst - zu richten, wenn nicht an Sie? (Borges, es ist schon
zehn Jahre her!) Ich will ja bloß sagen, dass Sie uns fehlen. Mir fehlen Sie.
Sie sind immer noch von großer Bedeutung. Die Epoche, in die wir jetzt
eintreten, dieses einundzwanzigste Jahrhundert, wird die Seele in ganz neuer
Weise auf die Probe stellen. Doch Sie dürfen versichert sein, dass einige von
uns die Große Bibliothek nicht im Stich lassen werden. Und Sie werden weiterhin
unser Patron und unser Held sein.
Susan