José Carlos Somoza: "Die dreizehnte Dame"
Am Anfang war das Wort
...
... und das Wort war bei Dante: "O ihr, die ihr gesunden
Sinnes seid, beachtet, welche Lehre sich verbirgt im rätselhaften Schleier
dieser Verse" (Inferno, Neunter Gesang).
Bessere
Eingangszeilen als jene des großen florentinischen Altmeisters hätte José Carlos
Somoza, in Spanien lebender Autor der Gegenwart, für "Die dreizehnte
Dame" wohl kaum finden können. Denn Dante wusste
wovor er warnte, wandelte Signore Alighieri ja bekanntlich selbst mit
dichterischer Kühnheit durch Paradies und Hölle. So wird seine besorgte
Aufforderung zum Vademekum für den fast fünfhundert Seiten starken Roman. Um
diesen sein Bukett voll entfalten zu lassen, scheint es ratsam, neben den
eingangs erwähnten gesunden Sinnen noch einen weiteren heranzubemühen: Sinn
Numero 6. Er steht sublim erklärend zur Seite. Zum Beispiel dann, wenn Somoza
dem metaphorischen Kuss der Musen tödliche Wirklichkeit zuschreibt oder dichterische
Inspiration sich als dämonische Manipulation entpuppt.
Zentrale Figur
in "Die dreizehnte Dame" ist ein Mann mittleren Alters, Salomón Rulfo.
Aus szenischen Rückblenden erfährt der Leser, dass Rulfos große Liebe, Beatriz,
zwei Jahre zuvor ums Leben gekommen war. Seitdem schwelgt der Universitätsdozent
für Literatur in sehnsüchtigen Erinnerungen und Selbstmitleid. Albträume, in
denen Menschen ermordet werden, verschlimmern seinen Zustand. Rulfo sucht Hilfe
beim Arzt Eugenio Ballesteros, dessen Frau Julia bei einem Autounfall starb
(Beatriz und Julia: zwei Namen mit tragischen Anklängen an Dante und
Shakespeare). Mit Raquel tritt eine dunkelhaarige, fast überirdisch schöne
femme fatale in Rulfos Leben. Angeblich ist sie Emigrantin aus Ungarn. Ihren
Lebensunterhalt verdingt die Geheimnisvolle als Prostituierte. In einem
Hinterzimmer versteckt Raquel ihren kleinen Sohn. Wieso? Wovor hat sie Angst?
Warum kann sie sich wenig bis gar nicht an ihre Vergangenheit erinnern? Wer ist
der ständig wiederkehrende sadistische Freier mit Sonnenbrille? Fragen, die auf
den ersten Blick fast wie die Kleckse eines tiefenpsychologischen Rorschachtests
scheinen.
Somoza schickt Rulfo samt Leserschaft auf Spurensuche in die Realität hinter
der Realität. Ein coven wird entdeckt, ein Zirkel von zwölf höchst gefährlichen
"Damen" (uralten Wesenheiten), die in der Lage sind, wahrzunehmen, welche Dichter
das größte kreative Potenzial besitzen. Sie waren es, die als Musen die genialsten
Poeten beeinflussten: Dante verliebte sich in Beatrice,
Petrarcas
Herz schlug für Laura, Shakespeare schrieb der bis heute unbekannten Dunklen
Dame Sonette, Hölderlin entfachte für
Diotima, etc. Meist nehmen die Zwölf die
Gestalten wunderschöner Frauen an. Ihre eigentlichen Namen in hierarchisch ansteigender
Reihenfolge: Baccularia, Fascinaria, Herberia, Maliarda, Lamia, Maleficiae,
Veneficiae, Maga, Incantátrix, Strix, Akelos und Saga. Eigennamen, die aber
ebenfalls nur Symbole sind, passend zu Rang und Funktion im coven. Ein
Wort noch zur jüngsten Dame, zu Baccularia: in ihrem Avatar als blondes, lockendes,
puppenhaftes Mädchen, mit sardonischem Lächeln scheint sie wohl
Nabokovs
Muse gewesen sein.
Warum gerade diese Fixierung auf
Dichter, warum sind nicht kreative Musiker, Maler oder Bildhauer die
Auserwählten? Nun ja, die zwölf Damen beziehen ihre Kraft gewissermaßen als
Versvampire. Ihnen geht es darum, die machtvollsten Sprüche aller Sprachen zu
finden. Nur eine Handvoll Poeten sind überhaupt imstande gewesen, solche
Machtverse zu verfassen. Worte bauen auf oder vernichten, das wissen wir alle.
Und Poesie leitet sich von poiesis ab, was "Schöpfung" bedeutet. D.h.,
was nicht aus sich heraus besteht, sondern geschaffen ist, kann auch wieder
zerstört werden. Die Zwölf sind der lyrische Logos. In Büchern fahnden sie nach
zerstörerischen Silbenketten, die sich "wie eine Silberader im Berg"
verbergen. Eine Gedichtzeile, von ihnen rezitiert, streckt danieder, wird zur
fatalen Fallgrube. Erläuterung gefällig: "Du liest Strophen und ahnst nicht,
dass ein einziger Vers - nur einer, aber der genügt - mit scharfen Krallen darin
lauert. Er braucht nicht schön zu sein, er braucht weder literarisch wertvoll,
noch gänzlich wertlos zu sein. Er ist einfach da, mit seiner geballten Ladung
aus todbringendem Gift."
Nun, haben Sie Lust bekommen, die Probe aufs Exempel zu machen und Zaubersprüche
auszuprobieren? Na dann. Wie wäre es mit "L'aura nera si gastiga" (Dante:
"Der schwarze Wind bestraft") oder "O rose thou art sick" (ein
auch ohne Übersetzung vielsagender Sager
aus
der Feder William Blakes, als er der androgynen sechsten Dame ansichtig
wurde). Natürlich kann man sein Unglück auch bei Baudelaire
oder Borges suchen. Horaz und
Shakespeare
bergen noch mehr Sprengkraft. Verehrer Byrons haben es hingegen schwer. Ihr
Idol soll zwar "eine Strophe von unberechenbarem Unheil verfasst" haben,
allerdings muss diese in umgekehrter Reihenfolge rezitiert werden, was ihr Vernichtungspotenzial
dem Auge des gewöhnlichen Lyrikfreunds in der Regel entzieht. Noch was: Machtverse,
die in andere Sprachen übersetzt werden, verlieren ihre Kraft. Dasselbe passiert
bei falscher Intonation. Stolpert Ihre Zunge rein zufällig über einen Zauberspruch,
führt eben dieser Zufall dazu, dass die unheilvolle Wirkung nicht hic et nunc,
sondern anderorts bzw. temporal versetzt eintritt. Selbst die Damen üben sich
in ihren Verswaffen vorsichtshalber im Rhapsodom. Was das ist, gibt Seite
268 preis.
Bislang war immer nur von zwölf Damen die Rede, der Buchtitel spricht aber von
einer dreizehnten. Sie ist die Achillesferse des coven, weshalb sie dem
Rest des Zirkels fernbleibt. An einem streng geheimen Aufenthaltsort versteckt
sich dieses namenlose Wesen in einem menschlich "Gefäß", gut getarnt. Der Dreizehnten
muss man habhaft werden, um den Zwölf nachhaltig beizukommen. Ariost
sagte zwar "Morire non puote alcuna fata moi", was soviel heißt, wie
"Feen können nicht sterben", doch ein Mittel gegen die mörderischen Musen
gibt es: ihre Imago muss mittels Rückwärtsvers und Wasser annulliert
werden. Imago??? Wieder heißt es, selbst herausfinden ...
Auch Rulfo, Ballesteros und Raquel arbeiten sich
mühsam zu all diesen Erkenntnissen durch. Im dreizehnten Kapitel fällt die
Tarnung der dreizehnten Dame (was zeigt, dass Somoza den Roman auch in kleinen
Details gut konzipiert hat), und ein ominöser Patient auf Zimmer E1 macht
spiegelverkehrt eine unliebsame Entdeckung. Es kommt zur alles entscheidenden
Wahl: liebenswerte Lüge oder widerwärtige Wahrheit?
Obwohl "Die dreizehnte Dame" von der Idee her ein eigenständiges Meisterwerk
ist, erinnert es im Handlungskonzept (naiver Held am Rande des Abgrunds; hypnotisierend
schöne, fremde Frau; Fäden ziehender Geheimzirkel; Bücher mit tödlichem Inhalt)
an den Roman "Der Club Dumas" (im Kino als "Die neun Pforten")
von Arturo Pérez-Reverte. Magische, in die Haut tätowierte Verse - so genannte
Tefillin - zeigen Ähnlichkeiten zur
Golem-Legende
(auch der Lehmgigant wird durch Wortformeln, Tzirufim, kontrolliert).
Den
wohl schönsten Satz in José Carlos Somozas Roman, seinen positiv zu
interpretierenden "Machtvers", spürte der Rezensent auf Seite 285
auf:
"Die Wirklichkeit ist Brennholz, die Dichtung ist Feuer, und die
Damen haben herausgefunden, wie man es anzündet."
Jeder, der
schon einmal verliebt war, wird diese Worte wohl als wahr empfinden
...
(lostlobo; 02/2006)
José Carlos Somoza: "Die dreizehnte
Dame"
Aus dem Spanischen von Elisabeth Müller.
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José Carlos Somoza, geboren 1959 in Havanna
auf Kuba, lebt seit vielen Jahren in Spanien und wurde dort für seine Theaterstücke
und Romane mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Für "Clara" erhielt
er den "Premio Fernando Lara", einen der begehrtesten Preise Spaniens, sowie
für "Das Rätsel der Philosophen" den britischen "Gold Dagger".
Weitere Bücher des Autors:
"Das Rätsel des Philosophen"
Ein alter Papyrus, auf dem ein Kriminalfall im antiken Griechenland beschrieben
ist. Ein rätsellösender Detektiv, der nicht nur zwei grausamen Morden, sondern
auch einem platonischen Denkproblem auf die Schliche kommt. Ein entführter Übersetzer
und ein triumphierender Philosoph - José Carlos Somoza hat ein brillantes Werk
verfasst, in dem die bildreiche Sprache und die gewitzte Handlung den Leser
gleichermaßen in Atem halten.
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"Die Elfenbeinschatulle"
Unter der heißen Sonne Andalusiens: Soledad, die Tochter eines vermögenden Industriellen
aus Madrid, ist verschwunden. Kurz zuvor hatte sie aus dem Dorf Roquedal einen
Hilferuf an ihre Lehrerin Nieves gerichtet, die sich sofort auf die Suche macht.
Soledads Vater schickt indessen den Auftragskiller Quirós nach Andalusien. Bald
findet das ungleiche Gespann eine erste Spur, stößt bei den Dorfbewohnern dann
aber auf eine Mauer des Schweigens ...
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"Clara"
Ein Mord entsetzt die
Welt der Kunst. Die erst vierzehnjährige Annek arbeitete als lebendes Element
einer der berühmtesten Installationen von Hugo van Tysch, dem Papst der
Hyperdramatischen Kunst, und jetzt ist sie tot. Doch Clara Reyes lässt sich
davon nicht beirren, auch sie will mit van Tysch arbeiten. Koste es, was es
wolle ...
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Noch ein Buchtipp:
Arturo Pérez-Reverte: "Der Club Dumas"
Arturo Pérez-Revertes erster großer Erfolg: Lucas Corso sucht im Auftrag von
Händlern und Sammlern nach seltenen Erstausgaben und prachtvollen Wiegendrucken.
Zwei bibliophile Kostbarkeiten werden dem Bücherjäger zum Verhängnis: ein wertvoller
okkulter Band, dessen Drucker vor Jahrhunderten auf dem Scheiterhaufen endete,
und das Kapitel eines Originalmanuskripts von Alexandre
Dumas. Manche Bücherschätze entzünden offensichtlich Leidenschaften, die
geradewegs in den Wahnsinn führen ... "Der Club Dumas" wurde 1999 von Roman
Polanski unter dem Titel "Die neun Pforten" mit Johnny Depp in der Hauptrolle
verfilmt.
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