Peter Sloterdijk: "Die Verachtung der Massen"
In dieser Unauffälligkeit und
Nichtfeststellbarkeit
entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur.
Wir genießen und vergnügen uns, wie man
genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur
und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir
ziehen uns aber auch vom "großen Haufen" zurück,
wie man sich zurückzieht; wir finden empörend,
was man empörend findet ... Die Öffentlichkeit
verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das
Bekannte und jedem Zugängliche aus ... Jeder ist
der Andere und Keiner er selbst. Das Man ... ist
das Niemand ..."
(aus "Sein und Zeit" von Martin Heidegger)
Der Aufstand des vulgären
Massenwesens gegen das ihm übergeordnete ausnehmend Vornehme
ist seit jeher Thema philosophischer Reflexion und bezeichnet zugleich
schon seit der Antike die Frage nach der Legitimität von
Demokratie; Demokratie ein Vorstellungsbegriff, der in seiner ehemals
aristokratischen Diktion Volksherrschaft als Gewaltherrschaft des
Pöbels denunzierte und als Schimpfwort jene diffamieren
sollte, die gleiche Rechte für alle (Isonomie) forderten. Wer
so wie Peter Sloterdijk sich, in all seiner Sprachregelung
volkstümliche Belanglosigkeit weit hinter sich lassend, zum
geistigen Hocharistokraten
stilisiert, wird à la longue auch nicht dem intellektuellen
Ressentiment gegen die Menschenmasse absent bleiben wollen und eine
Aversion gegen die Masse kultivieren, deren leidenschaftlichster Affekt
es ist, immerzu allen Adel in ihre Vulgarität ziehen zu
wollen. Ausdruck eines Hasses der Masse und ihres Indifferenzprinzips
gegen alles von Geburt oder Natur Begnadete, dem man Hochachtung und
Würdigung vorenthält, hingegen Tiefachtung oder
Gleichachtung gewährt und allgemeine Unerheblichkeit
zubilligt. - "Und wenn es noch Geistlichkeit oder Geistigkeit,
deutlicher gesprochen: abstandsetzende und daher Freiheit
gewährende Formen von Spiritualität und
Intellektualität gäbe - wo hätten sie
künftig im System der Gleichen ihren Ort? Wo wäre die
offene Höhe, von der man sich überragt
weiß, ohne dass der revoltische Reflex sie trübt?",
fragt Sloterdijk angesichts einer multiprätentiösen
Kultur, in welcher Rangplätze (die zeitgenössische
Wettbewerbsgesellschaft ist bekennende Ungleichheit) unter
egalitaristischen Prämissen vergeben werden (Illusion der
Chancengleichheit).
Bei aller trefflicher Diagnostik, der durch alltägliche
Ignoranz beleidigte Geist elitären Gehabens spricht aus des
Philosophen Worten zum Leser, und dieser mag ahnen, dass Sloterdijks
Essay nicht allein vertretbare objektive Kritik an modernen
Vermassungstendenzen ist, sondern ebenso subjektiv empfundene
Empörung des einsam Herausragenden über der
Überzähligen respektlosen Willen zur egalisierenden
Nivellierung nach unten. Es ist der Jammer aller
rückwärtsgewandten Kulturkritik
pseudoaristokratischer Manier, dass es ihr spätestens seit
Friedrich
Nietzsches Kult um das exzentrisch starke
Individuum und das hoheitliche Lamento eines Ortega y Gasset
über den Aufstand des Massenmenschen gegen das edle Leben, an
wirklich neuen und originellen Argumenten gegen die Massenkultur der
Neuzeit fehlt. Und so neigt sie zum Ritual esoterischer
Sprachvirtuosität, welche ihr Publikum gnadenlos in
Verständige und Unverständige teilt. Mittels einer
kaum noch verständlichen, ins Exzessive gesteigerter
Mitteilungsintensität enthebt sich der Philosoph in
transzendente Ferne und verbringt der vulgären
Menschenschwärze (Elias Canetti)
seinen Wirkgeist als knifflich verfasstes Schriftwerk zu. Die
Gesprächsverweigerung geistigen Adels gegenüber dem
üblen Gemeinsinn provoziert sich in verklausulierten
Sätzen, welche das vorsätzliche Risiko markieren,
nicht mehr allgemein begreiflich zu sein, und sich etwa wie folgt
anmuten: "Die komplexe Struktur der modernen Verachtung selbst, die
stets als verachtende und als verachtete Verachtung in Erscheinung
tritt, macht Annäherungen an das kontaminierte Feld der
unsicheren Massennarzissmen und der verletzten Eliteambitionen, und
ihre Verschränkungen ineinander, so schwierig wie
gefährlich. Was Psychotherapeuten die paradoxe Intervention
genannt haben, könnte sich hier leicht als die fatale
Intervention erweisen." Handelt es sich bei dem Sloterdijkschen Essay
also um den Aufsatz eines Bildungsphilisters geschrieben für
eine Kaste von Bildungsphilistern? Man weiß es nicht. Man
ahnt nur die Absicht und ist verstimmt.
Dazu muss man sagen: Schade um das löbliche Thema und schade
um den begabten und wortgewandten Philosophen, der Peter Sloterdijk
zweifellos ist. Um der Liquidierung des Natur- oder Talentadels durch
die Hetzmeute zu entgehen, versteigert er sich in einen sprachlichen
Differenzkult, welcher Thematisierung in übersteigerter
Begriffsartistik auflöst. Es ist zeitweilig mühsam -
obgleich faszinierend - dem Essayisten in seinen Ausführungen
zu folgen, die an Gedankentiefe nichts zu wünschen
übrig lassen, obwohl kritisch betrachtet nichts auf das
Plateau sozialphilosophischer Kulturkritik kommt, was nicht schon
anderswo mehrfach durchgekaut wurde. Nämlich, dass die
eigentliche Ursache gesellschaftlicher Spannungsverhältnisse
nicht in religiösen oder sozialen (Klassenkämpfe oder
Geschlechterkämpfe) Widersprüchen liegt, sondern im
Gleichheitsbedürfnis der Masse, die nach Einebnung aller
Besonderheit in ihr Einerlei trachtet. Mit eigenen Worten schreibt
Sloterdijk: " Es zeigt sich vielmehr, dass das Phänomen
Kulturkampf als solches der Streit ist, in dem über die
Legitimität und Herkunft von Unterschieden überhaupt
gerungen wird ... Das Verlangen der Masse nach Auslöschung und
Einebnung durchzieht alle Bereiche. Die Hetzmeute setzt die
Liquidierung des Natur- oder Talentadels auf die ideenpolitische
Tagesordnung. ... Die Parole heißt von nun an: Vorrang der
Demokratie vor der Kunst! ... Die Manager, die Moderatoren und
Rezensenten haben sich fast überall auf Kosten der Kreativen
nach vorn gedrängt und lassen sich als die eigentlichen
Schöpfer feiern." Sloterdijk beklagt den Trend zur Vermassung
aller Kultur und fordert Umkehr und Mut zu einer Kultur der
Differenzen, welche allein deswegen geboten scheint, um nicht
über die Nihilismusschwelle zu geraten.
Wie schon gesagt, der Sloterdijksche Essay "Die Verachtung der Massen"
ist ganz gewiss kein Text gedacht für Massen und ist insoferne
als antipopulistisch zu charakterisieren. Allein schon die
außerordentliche Intensität der Sprachvermittlung
wendet sich an eine elitäre Minderheit philosophisch
begnadeter Leser, die dem charismatischen Duktus des Autors mit
intellektueller Lust anheimfallen. Wer seine Freude an artistischer
Sprachübung hat, wer die virtuose Wiederaufnahme bereits
bekannter Gedanken liebt und wer sich durch konservativ anmutende
Kulturkritik nicht irritieren lässt, dem sei dieses alles in
allem faszinierende Elaborat eines Lieblings medial vermittelter
Philosophie jedenfalls ans Herz gelegt.
(Harald S.; 17. April 2002)
Peter
Sloterdijk: "Die Verachtung der Massen"
edition suhrkamp, 2000. 95 Seiten.
ISBN 3-518-06597-1.
ca. EUR 5,-.
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