Isaac Bashevis Singer: "Der Geschichtenerzähler"
"Wir wollen Freunde sein und uns gegenseitig viele Geschichten erzählen. Was ist denn schon das Leben? Die Zukunft ist noch nicht da, und man kann nicht voraussehen, was sie bringen wird. Die Gegenwart ist nur ein Augenblick und die Vergangenheit eine lange Geschichte. Wer keine Geschichten erzählt und keine Geschichten hört, lebt nur für diesen Augenblick, und das ist nicht genug."
Isaac Bashevis Singers Geschichten bewegen Gemüt und Verstand des Lesers gleichermaßen, die Gefühlsskala reicht von herzerfrischender Erheiterung bis Rührung.
In "Naftali, der Geschichtenerzähler, und sein Pferd Sus" begleiten wir den von Kindesbeinen an von Geschichten und Büchern faszinierten Naftali, der ein langes, reiches Leben als fahrender Geschichtenerzähler führt, bis er schließlich auf dem Landsitz des gutherzigen, wohlhabenden Reb Falik zwischen Lublin und Warschau ein behagliches Zuhause (und bedeutend mehr!) für seinen Lebensabend findet.
Die Geschichte "Die Ältesten von Chelm und Genendels Schlüssel" erzählt von den "bedeutenden" Gesprächen der Dorfältesten des fiktiven Ortes Chelm (nichtsdestoweniger existiert eine gleichnamige Ortschaft im Herzen Polens), insbesondere den Aussagen des Gemeindeältesten namens Gronam Ochs, dessen Frau ihn nicht, wie die übrigen Dorfbewohner, für einen fähigen Anführer, sondern für einen Einfaltspinsel hält. So wird u. a. beschlossen, um der Rahmknappheit Herr zu werden: "Wasser soll in Zukunft saurer Rahm heißen, und saurer Rahm soll Wasser heißen. Und weil die Brunnen von Chelm voller Wasser sind, wird jede Hausfrau ein Fass voll sauren Rahm haben." Welche Bewandtnis es mit Genendels Schlüssel hat, sei hier nicht verraten ...
"Die Narren von Chelm und der törichte Karpfen" berichtet von einem Fisch, der den Gemeindeältesten, Gronam Ochs, frech mit seiner Schwanzflosse ins Gesicht klatscht, als dieser sich über den Trog beugt, den Karpfen zu begutachten. Diese dreiste Untat kann nicht ungestraft bleiben - doch wie sieht die angemessene Bestrafung aus? Essen will Gronam Ochs das Untier nicht, fürchtet er doch um seine Klugheit, weil er den Fisch für verrückt hält und außerdem ein Exempel statuieren möchte. So wird als eine von vielen sonderbaren Möglichkeiten überlegt, den Karpfen aufzuhängen, was aber ob der Halslosigkeit des Delinquenten verworfen wird. Also verbleibt er Fisch im Bottich, während ihm sozusagen der Prozess gemacht wird. Nach einem halben Jahr wird das Urteil verkündet: Der Karpfen soll ertränkt werden, und so schleudert der Henker den wohlgenährten Verurteilten in hohem Bogen in den See ...
"Lemel und Zipe" sind für einander geschaffen: Beide sind von schlichtem Gemüt und werden von ihren Mitmenschen für Narren gehalten. Ein Heiratsvermittler waltet seines Amtes. Die gerissenen Mitbürger treiben ihre üblen Scherze mit dem armen Toren, sodass Lemel Zipes Mitgift binnen kürzester Zeit in dubiosen "Geschäften" verliert. So glaubt Lemel beispielsweise, allein von einem vermeintlichen "Wunderkeks", das ihm ein Wirt nach einer üppigen Mahlzeit angeboten hat, satt geworden zu sein und verwendet einen größeren Geldbetrag für ein vollkommen unbrauchbares "Rezept" - denn zu allem Überfluss kann Lemel nicht lesen, was ihn gleich ins nächste Schlamassel schlittern lässt ... Doch alles nimmt ein gutes Ende für Lemel und Zipe, denn Lemel findet einen Beruf, der seinen Fähigkeiten entspricht, und: "Zipe bekam Kinder und schenkte Lemel sechs Jungen und sechs Mädchen. Die Jungen schlugen Zipe nach, die Mädchen Lemel, und alle wurden gutmütige Narren und fanden Ehegefährten in Chelm. Lemel und Zipe lebten glücklich bis ins hohe Alter und erfreuten sich noch einer ganzen Sippschaft von Enkeln, Urenkeln und Ururenkeln."
Auch Schlemihl ist jemand,
dem die Teilnahme
am Handelstreiben nicht eben zu Wohlstand verhilft, weil er leichtgläubig,
unbeholfen und gutmütig ist. "Wie Schlemihl Geschäfte machte": In Lublin erwirbt
er eine hochwertige Milchziege, die allerdings ein Gauner mit einem "alten halbverreckten
Geißbock" vertauscht, während Schlemihl seinen vortrefflichen Handel mit reichlich
Branntwein begießt und nichts von den üblen Machenschaften des Gastwirts bemerkt.
Natürlich ist das Entsetzen groß, als Schlemihl mit der vermeintlichen Prachtziege
heimkehrt, und der Unglückliche hat zum Schaden auch noch den Spott, zumal es
ihm nicht gelingt, den Tausch rückgängig zu machen, weil er erneut aufs Kreuz
gelegt wird. Nicht besser ergeht es ihm beim Erwerb einer Trompete in Lemberg,
von der man ihm erzählt, sie könne Feuer löschen: Beim Demonstrationsversuch
geht das Haus des Schwiegervaters in Flammen auf, so sehr Schlemhil auch die
Trompete bläst ...
Nachdem die Mitgift seiner
Frau verschleudert ist, endet auch noch auch der Vertrieb süßen Branntweins gelinde
gesagt erfolglos, da die Eheleute einander mit einer einzigen Münze abwechselnd
ein Gläschen Branntwein abkaufen, bis das Fässchen ebenso leer ist wie die Kasse,
was für die beiden ein unlösbares Rätsel darstellt ... Und Schlemihl sagt oft
zu seiner Frau: "Wenn die Lubliner Ziege sich nicht in einen Geißbock verwandelt
hätte, und wenn die Trompete auch in Chelm Feuer gelöscht hätte, dann wäre ich
jetzt der reichste Mann im Städtchen." Und seine Frau antwortet: "Du magst ein
armer Schlucker sein, Schlemihl, aber du bist sicher klug und weise. So gescheite
Leute wie du sind rar, sogar in Chelm."
"Als Schlemihl nach Warschau ging" ist die Geschichte eines Streiches, infolge dessen sich Schlemihl zwar wieder in seinem Ausgangspunkt, seinem Heimatort also, befindet, allerdings allen Ernstes meint, in einem anderen Ort, der "seinem Chelm" bis aufs Haar gleiche, angelangt zu sein, was witzige Auswirkungen auf das Zusammenleben mit der Familie des "anderen Schlemihl", der natürlich seinerseits aus "diesem Chelm" fortgegangen sein müsse, zeitigt.
In der Geschichte "Wo die Reichen ewig leben" erhält der reiche Zalman Typpisch im Gemeindehaus eine "schlüssige Antwort", auf seine Frage, wie er ewig leben könne: "Wie ihr wisst, stehen in unseren Büchern die Namen aller, die in den letzten dreihundert Jahren geboren wurden und starben. Als ich die Liste all derer durchging, die in Dalfunka (Anm.: diesen Vorort von Chelm bewohnen nur Arme und Bettler) gestorben sind, fiel mir auf, dass dort noch nie ein reicher Mann gestorben ist. Das aber heißt, dass die Reichen in Dalfunka ewig leben." Am Ende nimmt die Geschichte eine weitere Wendung ...
Vermehren sich Silberlöffel? In "Todie der Gerissene und Leiser der Knicker" gelingt es dem armen Todie, den geizigen Leiser mit amüsanten Behauptungen über die angebliche Vermehrung ausgeliehener Löffel und über den Tod silberner Kerzenleuchter auszutricksen, und auch der Rabbi, dem dieser Fall von Täuschung letztlich vorgetragen wird, bricht in schallendes Gelächter aus, bevor er den habgierigen Leiser über "nützlichen" und "schädlichen" Unsinn belehrt.
Im Anhang findet sich ein Verzeichnis mit Erläuterungen der enthaltenen jüdischen Wörter und Begriffe; darunter Chale, Dredl, Kabbala, Schlemihl.
Isaac Bashevis Singer wurde am 14. Juli 1904 in Radzymin in Polen geboren und wuchs in Warschau auf. Er erhielt eine traditionelle jüdische Erziehung. Mit 22 Jahren begann er, für eine jiddische Zeitung in Warschau zu schreiben, erst auf hebräisch, dann auf jiddisch. 1935 emigrierte er in die USA und gehörte dort bald zum Redaktionsstab des "Jewish Daily Forward". 1978 wurde ihm für sein Gesamtwerk der Nobelpreis für Literatur ("for his impassioned narrative art which, with roots in a Polish-Jewish cultural tradition, brings universal human conditions to life") verliehen. Am 24. Juli 1991 starb Singer in Miami.
(K. Eckberg; 01/2003)
Isaac Bashevis Singer: "Der Geschichtenerzähler"
Mit Bildern von Julian Jusim.
Aus
dem Amerikanischen von Irene Rumler und Rolf Inhauser.
dtv,
Reihe Hanser, 2002. 112 Seiten.
ISBN 3-423-62094-3.
ca. EUR 7,-.
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