Henryk Sienkiewicz: "Wirren"
Gesellschaftliche Konventionen und blutiger Umsturz
Die Verleihung
des Literaturnobelpreises sorgt nicht nur heutzutage für kontroverse
Diskussionen. Bereits 1905 wurden Bedenken seitens der Nobelpreiskommission
laut, ob es richtig sei, Henryk Sienkiewicz den Preis zu verleihen, da sein Werk
"Quo Vadis?" "kommerziell zu erfolgreich" und somit "sein
künstlerischer Wert" in Frage zu stellen sei. Um einen Ausweg aus dieser
prekären Situation bemüht, verlieh man den Nobelpreis "für seine außerordentlichen
Verdienste als epischer Schriftsteller" und nicht nur für sein
bekanntestes Werk "Quo Vadis?".
Das hundertjährige Jubiläum der Nobelpreisverleihung nahm der Manesse Verlag
zum Anlass, den 1910 erstmals erschienenen Roman "Wirren" in seiner
Reihe "Bibliothek der Weltliteratur" zu veröffentlichen.
Nicht an einem Strang
Zwei komplexe Handlungsstränge durchziehen Sienkiewiczs ungewöhnlich kurzes Werk:
Die Mesalliance des Gutsbesitzers Wladyslaw Krzycki mit einer geheimnisvollen
englischen Gouvernante und die schwärende Revolution im seit
1814/1815
aufgeteilten Polen. Anlässlich der Testamentsvollstreckung des verstorbenen
Onkels des Protagonisten treffen sich die Erben, und auch jene, die hoffen, von
dem reich gedeckten Tisch eine Krume abzubekommen, auf dem Landgut Krzyckis.
Doch die Testamentseröffnung endet mit einem Eklat: Das vorhandene Land wird
nicht, wie es überkommene Tradition ist, weitervererbt, sondern der
fortschrittliche Verblichene hat verfügt, dass das Land parzelliert und an
seine ehemalig leibeigenen Bauern verschenkt wird.
Doch das ist nicht das einzige Unglück, das Wladyslaw zu Beginn des Romans
erleidet. Seine Mutter ist um das Wohlergehen ihres Sohnes besorgt und hat
deshalb vorsorglich eine potenzielle Heiratskandidatin eingeladen. Doch statt in
die standesgemäße Witwe verliebt er sich, fast auf den ersten Blick, in die
geheimnisvolle junge englische Gouvernante, die diese begleitet. Wladyslaw, eher
liberal und freigeistig gesinnt, ist sich seines Standes und der daraus
resultierenden Pflichten absolut bewusst, hat er es sich im Vorjahr doch
"... verwehrt, mich in (Roza Stabrowska) zu verlieben, weil ich weiß, dass
die Eltern sie mir nicht gegeben hätten." Beide
sind sich darüber im Klaren, dass es aufgrund der bestehenden Konventionen
nicht einfach werden wird, eine legale Beziehung einzugehen. Doch sie sind
bereit, für ihre Liebe zu kämpfen.
Revolution
Doch als wären die
Probleme mit Mutter, Erbe, Landgut und neuer Liebe noch nicht genug, gibt es da
ein weiteres, hausgemachtes Ärgernis. Der auf dem Landgut angestellte
Hauslehrer Laskowicz, ein glühender Verfechter des Sozialismus, bekommt durch
das Testament neuen Auftrieb. Ohnehin nur aufgrund eines Missverständnisses
eingestellt, "... Man sagte uns, er müsse weg ..., damit die Polizei ihn
nicht länger im Auge behält ... ich glaubte, es ginge um etwas Patriotisches
...", ist man seiner Verachtung und offenen Feindseligkeit der Bourgeoisie
gegenüber überdrüssig und will sich von ihm trennen. Doch Laskowicz ist ein
geborener Agitator und lässt sich nicht von seinem Ziel, der Zerstörung der
geltenden Ordnung, abbringen.
Kein Publikumsrenner
Sienkiewicz, Zeit
seines Lebens ein politischer Mensch, beschritt in seinem Roman "Wirren"
erstmals einen neuen Weg. Diesen mutigen Schritt tat er 1905, dem Jahr der
Verleihung des Literaturnobelpreises, auf der Höhe seines Erfolges: Er begann
die Arbeit an einem zeitgenössischen Roman, der die aktuellen politischen
Diskussionen und gesellschaftlichen Veränderungen aufgriff. Sein Versuch wurde
aber weder von Kritikern noch vom Publikum positiv aufgenommen. Erwartet hatte
man einen weiteren epischen historischen Roman; erhalten einen zeitgenössischen,
freigeistigen, dem Sozialismus positiv gegenüberstehenden Protagonisten und
eine positiv dargestellte weibliche Hauptfigur, die es wagt, die Verlobung mit
"dem Hohen Herrn" wieder aufzulösen statt dankbar zu sein, dass
dieser sich überhaupt ihrer erbarmt hat.
Jedoch aus der Entfernung des Jahres 2005 betrachtet, handelt es sich bei "Wirren"
um ein Panoptikum der 1905 im aufgeteilten Polen herrschenden verschiedenen
gesellschaftlichen und politischen Strömungen. Ohne die manchmal ausufernde
epische Breite seiner historischen Werke schildert Sienkiewicz prachtvoll die
Dekadenz der Gutsbesitzer, die Gedankenlosigkeit der Bourgeoisie gegenüber Menschen
niederen Standes, den Kampf der "kleinen Leute" um Eigenständigkeit, Mitspracherecht
und Befreiung vom Joch der Leibeigen- und Fremdherrschaft kurz vor Ausbruch
des Ersten Weltkrieges.
Glücklicherweise hat der Manesse Verlag dieses kleine Kunstwerk des Nobelpreisträgers dem
Vergessen entrissen und einem größeren Publikum zugänglich gemacht.
(Wolfgang Haan; 12/2005)
Henryk Sienkiewicz: "Wirren"
Aus dem Polnischen von Karin Wolff.
Manesse Verlag, 2005. 572 Seiten.
ISBN 3-7175-2072-5.
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Henryk Sienkiewicz wurde am 5.
Mai 1846 in Wole Okrzejska geboren und starb am 15. November 1916 in
Vevey/Schweiz. Nach dem Studium begann er seine schriftstellerische Laufbahn als
Feuilletonist und Satiriker. In frühen Erzählungen schilderte er kritisch das
beklemmende Leben der unteren Volksschichten und polnischen Auswanderer. Gegen
den Zeitgeist des polnischen Positivismus, der die Schilderung der sozialen
Wirklichkeit forderte, wandte er sich in den 1880er Jahren dem historischen
Roman zu.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Quo Vadis?"
Ein internationales Erfolgsbuch und ein Klassiker des historischen Romans, der
hier in ungekürzter Übersetzung der Originalausgabe von 1896 vorgestellt wird.
Der polnische
Literaturnobelpreisträger
Henryk Sienkiewicz schildert darin das dekadente Rom Kaiser
Neros, die rigorose sittliche Kraft des
aufstrebenden Christentums und eine
großartige Liebesgeschichte.
Auf der Grundlage der Übertragung von J. Bolinski neu erarbeitet von M. und R.
Erb. Mit Nachwort, Zeittafel und Glossar von S. Schahadat. (Artemis &
Winkler)
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