"Dies sind meine letzten Worte ...
Briefe aus der
Shoah"
Herausgegeben von Walter-Zwi Bacharach i. A. der Gedenkstätte Yad Vashem, Redaktion: Jehuda Bauer, Walter-Zwi Bacharach, David Bankier, Israel Gutman, Bella Guttermann, Dan Michman, Avner Shalev, Zweitredaktion: Yvonne Both
Es gibt zahlreiche Bücher, die sich mit
dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen. Hierbei ist oft die Shoah im Blickfeld,
wobei nackte Zahlen und Fakten die Beschreibungen bestimmen. Bildmaterial
dokumentiert den Wahnsinn derart prägnant, dass der Betrachter nur erschüttert
sein kann.
Der jüdische Glaube trägt die Erkenntnis in sich, dass das Leben jedes Menschen
heilig sei. Die Familientradition ist von eminenter Bedeutung, und die Zugehörigkeit
zum Judentum ist selten eine auf Zweckmäßigkeit reduzierte Auseinandersetzung.
Individuelle Schicksale fallen in der Regel nicht auf sich selbst zurück, sondern
verbinden sich mit geliebten und nahestehenden Menschen. Wer also die Briefe
von Menschen liest, die mitten im Wahnsinn, mitten in einer Situation stecken,
aus der es scheinbar kein Entrinnen gibt, und aus der früher oder später das
vorzeitige Ende des Lebens durch Abschlachtung, Vergasung, kurzum Vernichtung
erfolgen wird, der wird Zeuge eines Aufschreis, welcher an Menschen gerichtet
ist, die möglicherweise überlebten und die letzten Worte des Absenders wie ihren
Augapfel hüten sollten. Worte können leer und unbedeutend sein, sie können die
Wahrheit hinters Licht führen, und die Realität missachten. Die Worte von Menschen,
die mitansehen müssen, wie unzählige ihrer Mitbrüder und Mitschwestern vor ihren
Augen auf die abscheulichsten Weisen ermordet werden, sind stets Worte, die
Zeugnis ablegen von der Wahrheit, die hinter
dem grauenhaften Treiben der Schergen der Nazi-Diktatur steckte. Wenn Menschen
ihrer Vernichtung gewiss ein paar Zeilen auf einen Zettel kritzeln und diesen
in der Hoffnung aus einem Zug werfen, der nach Auschwitz oder Treblinka fährt,
dann hoffen diese Menschen, dass ihre Botschaft gefunden und an die richtige
Adresse weitergeleitet wird.
Die im vorliegenden Buch
gesammelten Briefe werden in verschiedensten Archiven aufbewahrt. Zu nennen sind
Yad Vashem in Jerusalem, Museum der Ghettokämpfer (Lohamey HaGeta'ot), Massu'ah
in Tel Jitzchak, das zionistische Zentralarchiv in Jerusalem, das Archiv der
religiösen Kibbutzbewegung in Kwutzat Jawne, Traditionen in Giv'at Chawiwa, das
Kibbutz Chafetz Chajim, das Kibbutz Chulda, das Kibbutz En Gew, Zefat, Moshaw
Nir-Galim, das Leo-Baeck-Institut in Jerusalem, die Archive der YIVO in den USA,
private Quellen, Gedenkbücher verlorener Gemeinden und der Serie "Encyclopedia
of the Diaspora". Durch die Unterstützung dieser Archive wurde es möglich, dass
diese oft sehr persönlichen Briefe in Buchform erscheinen konnten. Beim
Nachdenken über die Briefe ist es dem Rezensenten kaum möglich, eine Quintessenz
zu formulieren. Diese Briefe führen nicht zu bloßen intellektuellen
Auseinandersetzungen, sie sind Zeugnisse menschlicher Bedrängnis der extremsten
Form und dringen tief in die Seele des Lesers ein, wenn er sie als Adressat in
sein Bewusstsein sickern lässt. Es sind kostbare Juwelen, die mir als Leser
anvertraut sind. Es ist das Unfassbare, das Bestialische, das Undefinierbare,
welches nun wie eine niedergerissene Mauer das Herz zu erschüttern
vermag.
Aus dem jeweiligen Briefstil gehen die unterschiedlichsten Motive
hervor, die Menschen dazu veranlasst haben, letzte Worte an ihnen liebe und
teure Menschen zu schreiben. Oft ist es der Wunsch, dass dieser Irrsinn
dokumentiert sein sollte. Frauen und Männer aller Altersklassen sind bemüht,
ihre Fassung angesichts eines grauenhaften Schicksals zu bewahren. Solange die
Deportation noch nicht erfolgt ist, spricht Hoffnung aus den Briefen. Selbst in
den Ghettos gibt es Menschen, welche nicht verzweifeln und voller Hoffnung der
Zukunft entgegen sehen. Doch wer Zeuge von den bestialischen Morden der
Schlächter geworden ist, kann nicht umhin, jegliche Hoffnung fahren zu lassen.
Das Blut von zehntausenden Menschen sickert durch die Zeilen, welche dem Leser
anvertraut sind. Das Blut von Menschen, die leben wollten, die stets bemüht
waren, ein gottgefälliges, friedliches Leben zu führen, und nun angesichts der
baldigen persönlichen Vernichtung in sich zusammenfallen. Manche Menschen
glauben angesichts dieser Massaker nicht mehr an die Existenz Gottes, andere
sehen das Schicksal der Juden als gottgewollt an, wieder andere denken, selbst
schuld an ihrer Situation zu sein, und wieder andere lassen sich den Glauben an
Gott von den Schlächtern nicht austreiben.
Wer diese Briefe liest, der
muss sich dessen bewusst sein, dass er Zeuge von zahlreichen individuellen
Schicksalen wird, die meist in den Vernichtungslagern mit dem Tode der
Briefschreiber endeten. Wer lesen muss, dass wenige Tage alte Säuglinge den
Müttern entrissen und erschossen werden, wer lesen muss, dass sich Juden oft die
Gruben selbst graben mussten, in welche sie schließlich nach Schüssen ins Genick
hineingestoßen wurden, der kann angesichts dieses Entsetzens nur herausschreien:
"So etwas darf nie mehr passieren!" Es ist extrem schwer, diese individuellen
Schicksale in Herz und Seele aufzunehmen. Manchmal mag auch der Geist
rebellieren, da der Irrsinn innerlich weh tut. Doch diese Zeugnisse der Wahrheit
sind von einer enormen Bedeutung und müssen den Nachgeborenen vor Augen geführt
sein.
Walter-Zwi Bacharach schreibt in seinem Schlusswort: "Die in diesem
Buch präsentierten Briefe wurden in der Realität über die Realität geschrieben,
und aus ihnen spricht nichts als Realität.
Demzufolge sind die uns
vorliegenden Briefe echt und authentisch - doch ihre Lektüre erschüttert uns,
und wir wünschen uns, sie hätten nicht geschrieben werden müssen."
Diese Briefe sprengen die Grenzen des ansonsten im Tingeltangel des Alltags
gefangenen Bewusstseins. Hier tut sich eine Brücke über den Graben auf, der
den Leser von den Schicksalen zahlreicher Menschen getrennt hat und ihn nun
teilhaben lässt an einer Zeit, die Menschen in Ungeheuer verwandelte und das
größtmögliche Unglück über Millionen von Menschen gebracht hat, welche nur aufgrund
eines Merkmals vernichtet werden sollten: weil sie Juden waren. Möge nie wieder
ein derartiger Wahnsinn geschehen, und mögen wir Nachgeborenen alles daran setzen,
dass die menschliche Würde nicht vogelfrei wird. Millionen von Menschen wurde
in der Shoah ihr Hab und Gut, ihre Lieben, ihr sozialer Kontext, ihr Name, somit
ihr ganzes Leben genommen, ehe sie dann endgültig vernichtet wurden. Gedenken
wir dieser Menschen und vergessen wir nie, was ihnen im Namen einesRegimes
angetan wurde, das glaubte, die Wahrheit gepachtet zu haben. Die Wahrheit aber
trägt nie Kampfstiefel und zertritt das Leben von Menschen.
(Jürgen Heimlich; 06/2006)
"Dies sind meine letzten Worte ...
Briefe aus
der Shoah"
Wallstein Verlag, 2006. 336 Seiten.
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