Siddharth Dhanvant Shanghvi: "Das Lied der Dämmerung"


Ich liege an der Alten Donau und habe lesenderweise das Gefühl, mich mitten in einem "Bollywoodfilm" zu befinden. Die pralle, sinnenfreudige Geschichte des Schicksals der betörend schönen Anuradha im Indien gegen Ende der Kolonialzeit verzaubert von der ersten bis zur letzten Seite.

Anuradha Patwardhan wächst wohlbehütet in der Stadt Udaipur auf. Mit einundzwanzig Jahren soll sie mit dem jungen Arzt Vardhmaan Gandharva aus Bombay verheiratet werden, dem die Frauen seiner Heimatstadt zu Füßen liegen. Der Siebenundzwanzigjährige, einziger Sohn der Gandharva-Sippe, erfährt von der liebreizenden Anuradha von Bombays prominentestem Heiratsvermittler, der nicht nur deren Schönheit preist, sondern auch ihr legendäres Gesangstalent, dem sogar der Mond lauschen soll. Er übermittelt einen formellen Heiratsantrag, und nach den üblichen Abläufen heiraten die beiden.

Anuradha übersiedelt nach Bombay ins Haus des Ehemannes, dessen Mutter starb, als er noch ein Kind war, und dessen Vater später eine andere Frau ehelichte, Divi-bai, ein bösartige Person, die nach dem Tod des Vaters alle ihre schlechten Eigenschaften ungehemmt auslebt.
Der Haushalt der Gandharvas besteht aus einem bunten Gemisch von Verwandten, mit der Eiskönigin Divi-bai an der Spitze.
Anuradhas Leben verändert sich. Ihre Tante mütterlicherseits, die ebenfalls in Bombay lebende unkonventionelle und großherzige reiche Witwe Radha-mashi, gewinnt für sie an Bedeutung, die beiden sind einander sehr zugetan. Bei ihr treffen sich Künstler und Bohemiens zu den legendären Donnerstags-Salons. Berühmtheiten wie der scheue afghanische Maler Khalil Muratta, der als größter lebender Maler gilt und die berüchtigte Förderin der Künste, Liya Dass, gehen regelmäßig ein und aus.

Anuradha freundet sich schnell mit zwei Frauen ihrer neuen Familie an, Sumitra-bhabhi, einer jungen weisen Witwe und Taru, einer begabten Bharatnatyam-Tänzerin. Doch das ungetrübte Glück währt nicht lange, Divi-bai beginnt allmählich ihr das Leben zur Hölle zu machen. Dann wird Anuradha schwanger, ihr Sohn Mohan, ein sagenhaft hübsches Kind, wird geboren. Divi-bais Zorn wird größer. Mit nur achtzehn Monaten passiert ein Wunder: Mohans göttliches, geradezu magisches Gesangstalent, von der Großmutter und der Mutter geerbt, offenbart sich und schlägt alle Menschen in seinen Bann. Doch schon im nächsten Monsun kommt es zu einer Katastrophe ungeahnten Ausmaßes, die das Leben aller nachhaltig beeinflusst und durch die vieles zu zerbrechen droht.

Anuradha flüchtet verstört zu ihrer eigenen Familie und verbringt einen längeren Zeitraum dort, um sich selbst wieder zu finden und über die vergangenen Geschehnisse mit dem notwendigen Abstand nachzudenken.
Eine in der Zeit ihrer Abwesenheit von der Familie aufgenommene junge Waise, die schöne Nandini Hariharan weckt ihr Interesse. Merkwürdige Geschichten werden über das Mädchen erzählt, eine ihrer Vorfahrinnen solle sich vor sieben Generationen mit einem Leoparden gepaart haben, und bis in die Gegenwart hatte sich die Familie nicht von dem verderblichen Katzenblut in ihren Adern befreien können. Das seltsame halbwüchsige Mädchen raucht Bidis und verfügt über ein schier unglaubliches Maltalent, ihre Porträts enthüllen das Wesen der Menschen.
Die beiden ungleichen Frauen finden zueinander, und schließlich kehrt Anuradha mit Nandini zusammen nach Bombay zurück. Zu dritt beziehen sie mit Vardhmaan ein Haus am Meer, nicht irgendeines, sondern das schicksalsträchtige Dariya Mahal, in dem ihrer aller Leben noch zahlreiche Wendungen erfahren sollen.

Siddharth Dhanvant Shanghvi legt mit diesem Roman eine atemberaubend spannende und fesselnde Demonstration seiner Schreibkunst vor. Der 1977 in Indien geborene und aufgewachsene Autor studierte Internationalen Journalismus und Kommunikationswissenschaften in London und Kalifornien. Geschickt verbindet er die Erzähltradition seiner indischen Wurzeln mit westlichem Denken, indem er Charaktere beschreibt, deren englische oder irische Herkunft kaum mit ihrem Leben in Indien kompatibel zu sein scheint, und die ihre liebe Not mit den Einheimischen und deren Verhalten haben.

Auf westliche Leser wirkt Siddharth Dhanvant Shanghvis Erzählstil möglicherweise stellenweise überbordend bis überladen, für mein "Bollywood-Gefühl" erweist sich das jedoch als überaus zielführend.
Atemlos folge ich der Geschichte weiter, der Geburt des zweiten Sohnes, dem ausschweifenden Leben der Muse und Künstlerin Nandini, der sanftmütigen klugen Pallavi und ihrem Ehemann Krishnan, dem jungen Iren Sherman Miller ...
"Das Lied der Dämmerung", Siddharth Dhanvant Shanghvis erster Roman, zählt für mich zu jenen Büchern, in denen ich am liebsten noch lange Zeit weiter lesen würde.

(Gabriele Klinger; 08/2004)


Siddharth Dhanvant Shanghvi: "Das Lied der Dämmerung"
(Originaltitel "The Last Song of Dusk")
Deutsch von Martina Tichy, Margarete Längsfeld.
Wunderlich, 2004. 384 Seiten.
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