Aner Shalev: "Dunkle Materie"
Betrug,
Begehren und eine E-Mail-Romanze
Adam ist in New York tätiger israelischer Diplomat. Er lebt
schon sehr lange
dort und hat sich so daran gewöhnt, dass er sich kaum
vorstellen kann, außer
zu regelmäßigen dienstlichen und privaten Besuchen,
jemals wieder in sein
zerrissenes Heimatland zurückzukehren.
Seine Ehefrau arbeitet als Ärztin in einem jüdischen
Krankenhaus und ist sich
ziemlich sicher, dass ihr Mann sie schon seit langem und andauernd
betrügt.
Dennoch führen sie eine recht normale Ehe, und auch ihr
eheliches Sexualleben
scheint für beide recht befriedigend zu verlaufen. Nur:
für Adams Libido und
Ego ist es bei weitem nicht ausreichend.
Während eines Aufenthaltes
in
Israel fährt Adam in Jerusalem eine
Läuferin
an. Schon an der Unfallstelle "funkt" es zwischen den beiden, und
etwas, was die angefahrene Astrophysikerin Eva später als die "Dunkle
Materie" beschreiben wird, entfaltet sofort eine
mächtige und vor
allen Dingen völlig unwiderstehliche Anziehungskraft. Adam
begleitet Eva ins
Krankenhaus, doch ihre Verletzungen sind nur unbedeutend. Sie
verabreden sich
wieder, und was zunächst von außen wie
selbstverständliche Fürsorge
aussieht, entwickelt sich zu einer fatalen erotischen Beziehung.
Die hochintelligente Eva ist vor einigen Jahren aus Russland nach
Israel
emigriert und gerade dabei, ihre Doktorarbeit in Astrophysik
fertigzustellen. In
einem ihrer Tausenden von E-Mails, die sie einander schreiben, nachdem
Adam in
die USA zurückgekehrt ist, erklärt sie ihm ihre
für ihr Alter von 25 Jahren
erstaunliche wissenschaftstheoretische Position:
"Ich glaube, dass wissenschaftlicher Fortschritt keine
fließende
logische Abfolge ist, sondern etwas Revolutionäres,
Umstürzlerisches. Etwas
aus einem völlig neuen Blickwinkel zu betrachten. Zum Beispiel
die
kopernikanische Wende. Oder die Gesetze von Newton. Oder das Prinzip
der Unschärferelation
von Heisenberg. Ich möchte glauben, dass Forschung mehr eine
Sache von
Inspiration und Schönheit ist."
Es bleibt unklar, ob Adam das, was seine neue Geliebte, (er hatte schon
mehrere
zuvor, unter anderem eine Bekannte Evas, wie sich später nicht
ohne Dramatik
herausstellt), so brennend und existenziell beschäftigt,
überhaupt
interessiert. In einer unendlich langen
Abfolge von
E-Mails, die sie sich
zwischen Jerusalem und New York schreiben, macht sich Eva sozusagen
ganz
durchsichtig, erzählt Adam aus ihrer Vergangenheit und
berichtet ihm minutiös
ihr gegenwärtiges Leben. Doch ihn interessiert nur, ob er sie
für sich allein
hat. Während er sich auf eine geplante einwöchige
Begegnung mit Eva in einem
New Yorker Hotel freut, wird Eva in ihren von Aner Shalev lang
dokumentierten E-Mails
immer unsicherer, zumal Adam überhaupt nicht auf ihre
Anspielungen auf ihren
neuen körperlichen Zustand eingeht. Das verletzt sie so
sehr, dass sie sich für
kurze Zeit mit einem Kollegen einlässt und das Adam auch
berichtet. Der
reagiert mit heftigen Besitzansprüchen, obwohl er doch selbst
nebenbei fast täglich
mit seiner Frau Verkehr hat.
Man spürt den E-Mails ab, wie die beiden sich immer weiter
voneinander
entfernen und kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass es auch
diese neue
Form der sekundenschnellen Kommunikation rund um die Uhr quer
über den ganzen
Erdball ist, die mit ihrer besonderen Qualität die vorher so
gute Kommunikation
der beiden Protagonisten zerstört. Eva spürt das
genau und spricht, ohne dass
Adam es begreift, auch von ihrer Beziehung, als sie ihm das Thema eines
ihrer
Vorträge erläutert:
"Nach der Theorie des inflationären Universums dehnte
sich das
Universum sofort nach dem Urknall viel schneller aus als die
Lichtgeschwindigkeit. Sodass die Teilchen, die davor räumlich
sehr eng
beieinander und kausal miteinander verbunden waren sich im Bruchteil
einer
Sekunde so weit voneinander entfernten, dass es keine
Möglichkeit der
Kommunikation oder eines Kausalzusammenhangs mehr gab. Selbst ein
Lichtstrahl
konnte einen anderen Lichtstrahl nicht erreichen. Sodass es sich um
getrennte
Universen handelt, die vollkommen voneinander abgekoppelt sind. Nach
dieser
Theorie gab es bei der
Schöpfung
ein Universum, aber einen Sekundenbruchteil später, wegen der
inflationären
Expansion, teilte sich das Universum in viele verschiedene Universen,
die
parallel existieren, ohne jede Verbindung zueinander. Eine Verbindung
kann nicht
entstehen."
So ist es auch in der Beziehung zwischen Adam und Eva. Obwohl sie
erhebliche
Zweifel hat, kommt sie nach New York, und Adam versteht immer noch
nichts. Erst
als sie sagt: "Adam, falls du es noch nicht begriffen hast,
ich bin
schwanger, deshalb bin ich nach New York gekommen", reagiert
er; aber
nicht so, wie sie es sich erhofft hatte, und sie entfernen sich unter
heftigen
Qualen noch weiter voneinander.
Der Mathematiker Aner Shalev hat einen ganz besonderen Roman
geschrieben, der in
den Ausmaßen der menschlichen und sexuellen Leidenschaften,
die darin
beschrieben sind, stark an den verfilmten Roman "Liebesleben" seiner
Schwester Zeruya
Shalev erinnert.
Aner Shalev ist ein Roman gelungen, der den Leser immer wieder neu
überrascht
und auf eine Lesereise der ungewöhnlichen Art mitnimmt.
(Winfried Stanzick; 01/2008)
Aner
Shalev: "Dunkle Materie"
(Originaltitel "Hahomer Ha'afel")
Aus dem Hebräischen
von
Mirjam Pressler und Eldad Stobezki.
Berlin Verlag, 2007. 288 Seiten.
Buch
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Aner Shalev wurde 1958 im Kibbuz Kinneret geboren. Er studierte Mathematik und Philosophie an der Hebrew University of Jerusalem, an der er heute selbst lehrt.