Meir Shalev: "Im Haus der Großen Frau"
"Weißt du, wie ein Mann besser aufwachsen
könnte, Rafael?"
Diese Frage bekommt der Erzähler und Protagonist Rafael in
Meir Shalevs skurriler Familiensaga "Im Haus der Großen Frauen" nicht bloß einmal
gestellt. Man erfährt in einer äußerst liebevoll aufbereiteten und detaillierten
Schilderung, wie es dazu kommen konnte, dass Rafael seit 15 Jahren allein in der
Wüste lebt und Wasserleitungen repariert.
Es gibt keinen roten Faden, der sich durch den Inhalt des Romanes zieht, sondern
der Erzähler folgt nur streckenweise einem chronologischen Ablauf, um auch Rückblicke
zu halten oder Zukünftiges zu erahnen.
Rafael wächst in der Obhut der "Großen
Frau" auf, er lernt die Welt aus der Sicht eines Jungen kennen, der von "sechs
Brüsten, zehn Augen und fünfzig Fingern" umschlungen wird. Die fünf Frauen sind
als Gesamtheit mit dem Attribut "die Große Frau" versehen: die knausrige
Großmutter,
die Bücher verschlingende Mutter, eine schwarze Tante, eine rote Tante ("deren
Feuer erstorben ist") und schließlich die jüngere Schwester, der gleichzeitig
eine gesonderte Rolle zukommt: Sie ist so etwas wie ein imaginäres Gegenüber
des Erzählers, welches die Erinnerung wachhält und provoziert.
Rafael erhält viele Einblicke in die Innenwelt
und Lebensweisheiten der Frauen, (etwa was es heißt, die "Pamuschka" zu pflegen).
Der Protagonist weiß also um vieles, womit er sich nicht identifizieren kann ...
Um der Gefahr eines totalen Identitätsverlustes zu entrinnen, zieht er sich häufig
zurück. Für "die Große Frau" wächst er natürlich unter besten Bedingungen auf.
Rafael kann und will davon nichts wissen: "Weißt du, wie ein Mann besser aufwachsen
könnte, Rafael?" - "Und ich doofes Rechenrätsel - ein Junge, vier Witwen, sechs
Brüste, zehn Augen, eine Schwester und fünfzig Finger, die umschlingen, abschätzen,
prüfen, kosen - sperre meinen Geist weg und antworte: 'Nein.'"
Alle Männer
im Haus sind schon tot, sie haben Selbstmord begangen, sind im Krieg umgekommen
oder hatten einen Unfall. Melancholisch und oft resignierend, gibt sich Rafael
als Entwurzelter zu erkennen, der schon früh gelernt hat, sich von sich selbst und der
Außenwelt zu absentieren. Um der erdrückenden und oft autoritären Übermacht der
"Großen Frau" zu entkommen, flüchtet Rafael sich zum Steinmetz Abraham, der für
ihn zum Ersatzvater wird.
Als dieser stirbt, bleibt ihm nur mehr die
Wüste
als Zuflucht, um dort allein zu sein und endlich zu sich selbst zu
finden.
(jr)
Meir Shalev: "Im Haus der Großen Frau"
(Originaltitel "Bebejto bambidbar")
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama.
Diogenes.
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Meir Shalev, geboren 1948 in Nahalal in der Jesreel-Ebene, studierte
Psychologie
und arbeitete viele Jahre als Journalist, Radio- und Fernsehmoderator.
Inzwischen ist er einer der bekanntesten und beliebtesten israelischen
Romanciers. 2006 erhielt er für sein Gesamtwerk den "Brenner Prize", die höchste
literarische Auszeichnung
in Israel. Meir Shalev schreibt regelmäßig Kolumnen
für die Tageszeitung "Yedioth Ahronoth". Er lebt in Jerusalem und in
Nord-Israel.
Zwei weitere Bücher des Autors:
"Mein Wildgarten"
zur Rezension ...
"Zwei Bärinnen"
In einem Dorf im Norden Israels begehen
im Jahr 1930 drei Bauern Selbstmord. So steht es in den Akten, aber alle im Dorf
wissen, dass nur zwei der angeblichen
Selbstmörder Hand an sich gelegt haben.
Der dritte wurde ermordet.
Siebzig Jahre sind seither vergangen. Ruta Tavori, Lehrerin am örtlichen
Gymnasium, weiß, wer diesen Mord begangen hat, und will nun davon erzählen.
Davon und von den Männern ihrer Familie: ihrem Großvater, ihrem Mann, ihrem
Bruder und ihrem Sohn - den Männern, die sie liebt, denen sie zürnt, nach denen
sie sich sehnt und denen sie zu verzeihen
versucht.
Eine Geschichte über Männerfreundschaften und die Liebe einer Frau, über
Leidenschaft und Untreue, über Verlust,
Rache und deren Sühne. (Diogenes)
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