Matthias
Bischoff & Dietrich Schwanitz:
"Shakespeares Hamlet und alles, was ihn für uns zum
kulturellen Gedächtnis macht"
Geniale
Interpretations- und Verständnishilfe
Am 23. April 1564 wurde der berühmte englische Dramatiker,
Schauspieler und Dichter William Shakespeare in der Kleinstadt
Stratford-upon-Avon in Warwickshire als Sohn des katholischen
Handwerkers und Bürgermeisters John Shakespeare geboren. Nach
dem Besuch einer Lateinschule, der überstürzten
Heirat der acht Jahre älteren Anne Hathaway, Tochter eines
Bauern aus einem Nachbarort, geriet er in London in Kontakt zu einer
Schauspielertruppe, wurde selbst Schauspieler und begann mit 27 oder 28
Jahren inspiriert durch sein Theaterumfeld selbst Stücke zu
schreiben. Sein aus Dramen, Epen und Sonetten bestehendes Werk, das mit
seiner beispiellosen inhaltlichen und formalen Komplexität bis
heute Bestand hat, war erfolgreich. 1594 wurde Shakespeare als
Schauspieler und Teilhaber der besten Londoner Theatergruppe, der 'Lord
Chamberlain’s Men' geführt und fortan von allen
Kritikern als erster unter den wichtigen englischen Autoren genannt.
Wohlhabend geworden erwarb er Grund und Boden in Stratford-on-Avon, wo
er an seinem Geburtstag am 23. April 1616 im Alter von 52 Jahren starb.
Mit Shakespeares wohl berühmtester Tragödie 'Hamlet'
befasst sich das vorliegende im Oktober 2006 posthum erschienene Buch
von Dietrich Schwanitz. Es hat seine eigene Vorgeschichte. Schwanitz,
der im deutschsprachigen Raum 1999 mit seinem so witzigen wie
lehrreichen Erfolgstitel 'Bildung.
Alles, was man wissen muss' bekannt
wurde, war bis 1997 Professor für englische Literatur an der
Universität Hamburg. Den Schwerpunkt seiner literarischen,
philologischen und philosophischen Aktivitäten bildete das
umfangreiche Werk William Shakespeares. Da die Bücherberge der
sogenannten Shakespeare-Industrie aufgrund ihrer
literaturwissenschaftlichen Ausrichtung für den
Normalbürger weder lesbar noch verständlich sind,
begann er in den Jahren 2002/2003 mit einem einzigartigen Projekt.
Ähnlich wie schon einmal im 19. Jahrhundert der englische
Essayist Charles Lamb Kindern Shakespeare näher zu bringen
suchte, wollte Schwanitz für Erwachsene sämtliche
Dramen Shakespeares nicht nur nacherzählen, sondern auch
interpretieren und in ihren zahllosen Bezügen und
Mehrdeutigkeiten darstellen.
Der Arbeitstitel dieses geplanten Großwerkes lautete 'Shakespeare
und alles, was ihn für uns zum kulturellen Gedächtnis
macht'. Nun gehören zu Shakespeares dramatischen
Werken allein 7 Königsdramen, 10 Komödien, 10
Tragödien und 8 Problemkomödien. Dies lässt
leicht erahnen, welch gewaltige Dimension das geplante Gesamtwerk
angenommen hätte. Vermutlich auch deswegen unterbrach
Schwanitz die Arbeit am Shakespeare-Buch immer wieder, um sich in den
Monaten vor seinem Tod im Dezember 2004 anderen Projekten zuzuwenden.
Neben stark lückenhaften ersten Fassungen der Dramen
'König Lear',
'Der Kaufmann
von Venedig' und 'Der
Widerspenstigen Zähmung' liegt nur mit dem 'Hamlet' ein in
sich geschlossenes Textstück vor.
Da dieser Text einiges enthält, was der Autor
über
Shakespeare zu sagen hatte und er seinen Intentionen einer
Endfassung wohl am nächsten kam, beschränkten die
Herausgeber und die Familie Schwanitz den ursprünglichen
Arbeitstitel auf den vorliegenden Buchtitel.
Obgleich nur als Teil eines größeren Ganzen gedacht,
hat uns Dietrich Schwanitz bereits mit seiner interpretierenden
Nacherzählung des Hamlet Grandioses hinterlassen. Mit seinem
profunden Hintergrundwissen erleichtert er unser Verständnis
vieler Nuancen dieser Tragödie des Dänenprinzen, der
die Ermordung seines Vaters, des Königs, rächt,
ungemein. Denn Schwanitz erzählt die Geschichte der Vergiftung
des Königs durch seinen eigenen Bruder, der die Thronfolge
angetreten und die Witwe des Ermordeten geheiratet hatte, nicht nur
nach. Er erklärt die historischen Bezüge dieses um
1600/1601 entstandenen Dramas, verdeutlicht die zahlreichen von
Shakespeare (im Gegensatz zum Abspann vieler Filme) beabsichtigten
Ähnlichkeiten seiner Figuren mit Personen des damaligen
Zeitgeschehens. So wird klar, dass die Anfangsszene der
Wachablösung auf Schloss Helsingör als Synonym der
anstehenden Ablösung der alternden Queen Elisabeth durch James
von Schottland zu verstehen ist.
Anhand näher erläuterter Passagen lässt
Schwanitz den gesamten Bildungskosmos Shakespeares an der Schwelle vom
16. zum 17. Jahrhundert aufscheinen. Feinsinnig werden Unterscheidungen
etwa bei der Erscheinung von (Luft-, Wasser-, Erd- und Feuer-) Geistern
deutlich, wie sie eben nur in einer Zeit möglich waren, in der
die arrivierte katholische Kirche mit den neuen Überzeugungen
der Protestanten zu kämpfen hatte. Überhaupt wird der
Text lebendig durch zahlreiche englische Originalzitate, aber auch
eigene über die klassische Schlegel/Tieck-Übersetzung
hinausgehende treffende Übersetzungen. Schwanitz lenkt den
Blick auf Shakespeares Wortspiele wie etwa bei 'son'
und 'sun', wenn also das Wort für Sohn im
Zusammenhang mit Königen mit dem gleichlautenden Wort
für Sonne identifiziert wird. Oder er erläutert uns,
wenn Hamlet Ophelia rät, ins Kloster zu gehen, dass 'nunnery'
eben nicht nur Kloster, sondern umgangssprachlich auch Bordell bedeutet.
Am Ende wird dem Leser
Hamlet,
wie Schwanitz ihn schon in 'Bildung.
Alles, was man wissen muss' charakterisiert hat, als melancholischer
Hysteriker und selbstmörderischer Komödiant, als
erster Intellektueller und Urbild eines romantischen Menschen, der sich
mit ideologischen Fieberträumen und den Halluzinationen des
Selbstzweifels herumschlägt, ans Herz gewachsen sein.
Letztendlich fragt man sich beim Lesen der plausiblen Interpretationen
und instruktiven Erklärungen subtiler Wortspiele und
komplizierter Zusammenhänge unwillkürlich, wie man
ohne Schwanitz dieses meistgespielte Theaterstück
überhaupt verstehen kann. Was hätte mancher
leidgeprüfter Schüler darum gegeben, wenn er sich mit
dem vorliegenden Büchlein auf die Prüfung seiner
Hamlet-Kenntnisse im Deutsch- oder Englischunterricht hätte
vorbereiten können.
Fazit: Wer sich dem Dichter aller Dichter und der Lektüre
Hamlets, des weltberühmten Dramas um Königsmord und
Vergeltungstat, zuwendet, sollte sich das Verständnis durch
Schwanitz 161-seitiges, in geschliffenem Stil geschriebenes,
überzeugendes Erläuterungswerk erleichtern. Es lohnt
sich. Den überaus positiven Eindruck des Buches runden ein
achtseitiges Vorwort des Autors an den Leser, einige instruktive
Stichworte zu Hamlet und ein vierseitiges Nachwort des Herausgebers ab.
Der geschmackvolle Einband schließlich zeigt ein
Wandgemälde, bei dem die Malerin Andrea Berthel-Duffing im
Auftrag des verstorbenen Autors Paolo Veroneses 'Gastmahl bei Gregor
dem Großen' aus dem Jahr 1572 in einen Shakespeare-Kosmos
verwandelt hat. Während in der Mitte an der Stelle Gregors
Elisabeth I. von England
thront, sitzt rechts von ihr der Dramatiker.
Sie werden umrahmt von Figuren aus Shakespeares Dramen: Hamlet,
Othello, Desdemona, Romeo und Julia. So wie auch Alfred Hitchcock stets
kurz in seinen Filmen zu sehen war, ist auf der linken Seite des
großen Wandgemäldes auch der Auftraggeber mit seinem
markanten Bart zu erkennen.
Zuguterletzt bleibt das zu frühe Ableben des Autors zu
bedauern, der bei Vollendung seines ursprünglich geplanten
Gesamtwerkes Shakespeare
im deutschsprachigen Raum sicherlich noch populärer gemacht
hätte.
(Dr. Matthias Korner; 02/2007)
Matthias
Bischoff & Dietrich Schwanitz: "Shakespeares Hamlet und alles,
was ihn für uns zum kulturellen Gedächtnis macht"
Eichborn, 2006. 161 Seiten.
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Hörbuch:
Eichborn LIDO, 2006. 4 CDs.
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Dietrich Schwanitz wurde am 23. April 1940 in Werne an der Lippe (Ruhrgebiet) geboren, verbrachte seine Kindheit bis zum elften Lebensjahr bei mennonitischen Bergbauern in der Schweiz ohne Schulbesuch und wurde nach seiner Rückkehr von einem tollkühnen Gymnasialdirektor ohne Vorkenntnisse in die höhere Schule aufgenommen. Er studierte nach dem Abitur Anglistik, Geschichte und Philosophie in Münster, London, Philadelphia und Freiburg, wo er in Anglistik promoviert wurde und sich nach Forschungsaufenthalten in den USA auch habilitierte. Von 1978 bis 1997 lehrte er als Professor für Englische Literatur und Kultur an der Universität Hamburg. Seine Kollegen aus der Fachwelt kennen ihn als den Theoretiker, der als einer der ersten die Systemtheorie in die Literaturwissenschaft eingeführt hat. Dietrich Schwanitz lebte als freier Autor in Hamburg und in Hartheim Südbaden. Im Alter von 64 Jahren verstarb er kurz vor Weihnachten 2004.
Leseprobe:
An den Leser
"Verflucht sei der, der meine Gebeine bewegt!" Diese Warnung findet
man, eingemeißelt in eine Grabplatte, in der Pfarrkirche des
westenglischen Städtchens Stratford. Unter ihr liegt seit 1616
ungestört der sterbliche Körper von William
Shakespeare.
Der unsterbliche Korpus seiner Werke wird von keiner derartigen Warnung
geschützt. So wurde er unter einem Berg von Büchern
begraben. Über Shakespeare wurden mehr Bücher
geschrieben als über jeden anderen einzelnen Gegenstand. Ein
Himalaja von Deutungen und Interpretationen, von Untersuchungen
über jeden erdenklichen Aspekt, angefangen von
Weitwinkelstudien zur elisabethanischen Gesellschaft, zur
Mentalität, zum Hofleben etc. bis zu den Arbeiten der
poetologischen Mikrophysik wie "Das Bild des Unkrauts in Hamlet" - wenn
es eine Seite des Shakespeareschen Werkes gibt, die noch unbearbeitet
geblieben ist, so kennen wir sie nicht. "Und", so ruft jemand in der
Menge, "trotzdem muten Sie uns
ein
weiteres Buch über
Shakespeare zu?" Ja, mein Freund, denn es gilt der Grundsatz:
"Gegen
Bücher helfen nur Bücher."
Nicht, dass diese Masse von Büchern wertlos wäre oder
unwissenschaftlich oder zu leichte Kost. Manche von ihnen sind sehr
gehaltvoll und nahrhaft. Sie sind auch nicht ungesund, jedenfalls nicht
alle. Sie sind nur nicht bekömmlich. Nun ist der Verzicht auf
Nahrung im Reich des Geistes viel gefährlicher als bei der
körperlichen Ernährung. Sollte man nämlich
auf den Gedanken verfallen, aus Ekel vor dem Überhandnehmen
des Junkfood das Essen ganz einzustellen, wird ein scharfes
Hungergefühl uns bald dazu nötigen, die Speisekammer
zu plündern.
Kein solches Warnsystem schützt uns im Reiche der geistigen
Nahrung. Wer an geistiger Unterernährung leidet, bemerkt seine
Symptome nicht. Die bemerken lediglich die anderen.
Weil uns solch ein Warnsystem fehlt, wird unsere Gesellschaft immer
wieder von Hungersnöten und den sie begleitenden Epidemien
bedroht. Nun muss man wissen, dass die unbekömmlichen
Bücherberge, die von der sogenannten Shakespeare-Industrie
hervorgebracht werden, gar nicht für Leser geschrieben werden.
Sie werden verfasst für Fachkollegen, die als Mitglieder von
Kommissionen darüber zu entscheiden haben, ob der Autor
promoviert, habilitiert, berufen, befördert, beamtet oder
entlassen wird oder ob er, wenn all dies hinter ihm liegt, nach dem
Urteil seiner Fachkollegen ein Wissenschaftler von Rang ist.
Außer diesen Fachkollegen wird das Werk niemand freiwillig
lesen. Deshalb orientieren sich die Autoren allein am Kriterium der
Wissenschaftlichkeit. (...)