Elif Shafak: "Der Bastard von Istanbul"
Mutige
Gesellschaftskritik, eingebettet in einen wunderbaren Roman
Istanbul vor etwa zwanzig Jahren: Die neunzehnjährige
Türkin Zeliha ist unterwegs zum Gynäkologen, um eine
Abtreibung vornehmen zu lassen. Auf dem OP-Tisch besinnt sie sich um.
Sie wird das Kind behalten.
Zeliha entstammt einer Familie, in der die Männer wie unter
einem Fluch jung sterben. So ist sie mit vier älteren
Schwestern und einem Bruder aufgewachsen. Der Bruder Mustafa wurde zum
Studium in die USA geschickt, damit er dem Familienfluch entgehen
möge - kurz bevor Zeliha von ihrer Schwangerschaft erfuhr;
Zeliha, die aufgrund ihrer Neigung zu Nasenpiercings und
Miniröcken ohnehin schon eine nur mühsam tolerierte
Sonderrolle in ihrer konservativen Familie einnahm.
Etwa zur selben Zeit lernt die junge geschiedene Mutter Rose, eine in
Arizona lebende Amerikanerin, den Türken Mustafa kennen. Sie
ist voller Wut auf den Vater ihrer Tochter Armanoush und dessen
vereinnahmende armenische Familie, in der sie immer herablassend als
Außenseiterin behandelt wurde, bis sie es nicht mehr ertragen
konnte und sich scheiden ließ. Aus Rache an der Familie geht
sie schließlich eine Ehe mit dem Türken ein.
Der Hauptteil des Romans spielt in der heutigen Zeit, also rund zwanzig
Jahre nach den soeben geschilderten Ereignissen. Zelihas uneheliche
Tochter Asya, erzogen von ihren Tanten und einer Mutter, die sie
ebenfalls "Tante" nennt, ist Nihilistin und leidet zutiefst unter ihrem
Schicksal als "Bastard", zumal ihre Mutter sich weigert, die
Identität ihres Vaters preiszugeben. Sie rebelliert gegen das
Diktat der überwiegend sehr konservativen Tanten und lebt ihr
eigenes, allerdings wenig zielgerichtetes Leben.
Gleichzeitig droht auch Armanoush an ihrer Familie, oder eigentlich an
ihren Familien, zu zerbrechen. Der Spagat zwischen der armenischen
Familie ihres Vaters, bei der sie sämtliche Ferien verbringt,
und die sie tief hineinzieht in das zurückgewandte nationale
Empfinden der Exilarmenier und ihren Hass auf alles Türkische,
und ihrer Mutter Rose mit ihrer wütenden pauschalen Ablehnung
des Armeniertums mit ihrem etwas faden, aber sympathischen
türkischen Ehemann, fällt ihr zunehmend schwer.
Armanoush versteht, dass sie sich selbst nur finden und positionieren
kann, wenn sie in die Türkei reist und ihren armenischen
Wurzeln nachspürt. Heimlich nimmt sie mit der Familie ihres
Stiefvaters Kontakt auf und besucht diese.
Asya ist zunächst versucht, dem Gast mit derselben Abneigung
zu begegnen, die sie für alle Frauen empfindet. Aber rasch
entwickelt sie Verständnis für Armanoushs
verzweifelte Suche nach ihrer Vergangenheit, und zwischen den jungen
Frauen entsteht eine für sie selbst überraschende
Freundschaft. Sie können zu diesem Zeitpunkt noch nicht
absehen, wie viele gefährliche schlafende Hunde Armanoushs
Besuch wecken wird.
Elif Shafak hat in ihrem Roman mehrere Tabuthemen der
türkischen Gesellschaft verarbeitet: den
Genozid an den Armeniern,
Inzest aufgrund einer verlogenen Sexualmoral, die Stellung der Frau in
der Familie und die Ächtung unehelich Geborener.
Das klingt auf den ersten Blick nach einer Überfrachtung, doch
die Autorin flicht die eine oder andere Problematik derart geschickt
und subtil ein, dass der Roman nie unrealistisch wirkt. Hauptthema ist
die Auseinandersetzung mit dem Massenmord an der armenischen Minderheit
in der Türkei 1915. Elif Shafak schildert das
Selbstverständnis der Nachkommen überlebender
Armenier sehr sensibel; sie wirbt für Verständnis,
ohne jedoch unkritisch zu sein. Zugleich vermeidet sie eine pauschale
Verurteilung der Türken, insbesondere der jungen Generation,
der es einerseits an Informationen zum Völkermord mangelt, und
die andererseits auch nicht die Verantwortung für Taten
übernehmen möchte und kann, die ihre Vorfahren
verübt haben - eine Diskussion, die den Deutschen vertraut
anmutet.
Das rechte Augenmaß bewahrt die Autorin auch hinsichtlich der
Lanze, die sie für die türkische Frau bricht: Sie
wertet die Männer nicht ab, während sie aufzeigt, wie
zerstörerisch
die traditionelle Rollenverteilung und die
Vorurteile gegenüber einem unkonventionellen Lebensstil auf
Frauen wirken können.
Der Roman ist geschickt konzipiert und spannend verfasst und stellt dem
Leser sorgfältig auskomponierte, interessante und authentische
Charaktere vor. Immer wieder überrascht der mit Sarkasmus
gespickte Humor der Autorin; in mancher auf den ersten Blick
komödienhaft anmutenden Szene verbirgt sich ein tiefer Abgrund.
Elif Shafak wurde 2006 aufgrund dieses Romans in der Türkei
wegen "Verunglimpfung des Türkentums" angeklagt. Schon allein
deshalb lohnt es sich, ihn zu lesen und sich eine Meinung
darüber zu bilden. Abgesehen davon handelt es sich bei "Der
Bastard von Istanbul" um ein wunderbares Stück Literatur und
eine Liebeserklärung an eine Stadt zwischen den Welten, die
sich für eine Mittlerfunktion wie kaum eine andere
anböte.
(Regina Károlyi; 03/2007)
Elif
Shafak: "Der Bastard von Istanbul"
Übersetzt von Juliane Gräbener-Müller.
Eichborn, 2007. 459 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Elif
Shafak wurde 1971 in Straßburg geboren. Als Tochter
türkischer Eltern verbrachte sie weite Teile ihrer Kinder- und
Jugendjahre in Spanien, bevor sie in die Türkei
zurückkehrte und an der Universität von Ankara
studierte. Elif Shafak lebt mittlerweile in den Vereinigten Staaten von
Amerika.
Weitere Bücher der Autorin:
"Der Bonbonpalast"
Ein Haus als Metapher für eine ganze Stadt: "Der Bonbonpalast"
verwebt kunstvoll die Geschichten der zahlreichen Hausbewohner mit der
Geschichte und Gegenwart Istanbuls, einer Stadt zwischen Mystik, Religion und
der Kraft der Moderne.
Ein ehemals prachtvolles Haus im Zentrum von Istanbul, gebaut von einem
russischen Adeligen für seine Frau, ist der Schauplatz dieses Romans.
Inzwischen ist der "Bonbonpalast" allerdings ziemlich verwittert - und
Heimstatt nicht nur für eine, sondern gleich für zehn sehr unterschiedliche
Familien. In der Erzählung ihrer Schicksale, Tragödien und Komödien folgt
"Der Bonbonpalast" der Struktur von
"Tausendundeiner Nacht".
In loser Folge und doch aufeinander bezogen werden die Schicksale und Erlebnisse
eines zutiefst frommen Mannes, zweier ungleicher Zwillinge, die einen
Friseursalon betreiben, eines namenlosen Ich-Erzählers, einer rätselhaften
alten Frau, einer charmanten Schönheit und eines Marihuana rauchenden Studenten
mit Hund erzählt - und damit die des Gebäudes und der Stadt. Gegenwart,
Vergangenheit, Zukunft, alles fließt in diesem Roman zusammen, der vor
Geschichten nur so sprudelt, Geschichten, die so unglaublich sind und so real
wie der Geruch des Hauses, dessen Quelle ganz am Ende an unerwarteter Stelle
gefunden wird. (Eichborn)
Buch
bei amazon.de bestellen
"Die Heilige des nahenden Irrsinns"
Wenn Omar eines in den wenigen Monaten in Boston gelernt hat, dann
dies: Amerikaner lieben es, wenn sie Namen aussprechen können.
Namen sind die Brücken zu den Burgen der Existenz anderer
Menschen. Den Namen eines Anderen zu lernen heißt, einen Teil
seiner Existenz zu verstehen. Und so hat sich Ömer in Omar
verwandelt, ist in eine WG mit Abed und Piyu gezogen und hat sich Hals
über Kopf in Gail verliebt. Gail ist eine attraktive
Amerikanerin, die eigentlich Zarpandit heißt und ihre
Unsicherheit und Schüchternheit durch sexuelle Eskapaden und
merkwürdige Obsessionen überspielt. Was Gail und Omar
vereint, ist das Gefühl, nur in ihrer Beziehung sie selbst
sein können. Und das Wissen, dass ihre Vorstellung vom
us-amerikanischen Traum nicht dieselbe ist ...
Freundschaft und Liebe, Tradition und Veränderung, Sprache und
Nationalität im Schmelztiegel der modernen USA - klug und
humorvoll macht Elif Shafak dem Leser Reichtum und Vielfalt der
Kulturen zum Geschenk, ohne den Preis zu verschweigen: das Verschwinden
der eigenen Identität. (Eichborn)
Buch
bei amazon.de bestellen
Weitere Buchtipps:
Sabahattin Ali: "Der
Dämon in uns"
Ein großer Istanbul-Roman über die ruhelose
Generation der frühen Republikjahre: Ömer und Macide,
beide heimatlos in der vibrierenden Großstadt, suchen ihr
Glück und verlieren es wieder.
Als Ömer bei einer Fahrt auf dem Bosporus Macide erblickt,
durchfährt es ihn wie ein Blitz: Er kennt diese Frau bereits!
Macide bricht alle Brücken hinter sich ab, verlässt
ihre Familie und zieht zu ihm in seine Kammer. Eine Weile leben die
beiden selig in ihrer eigenen Welt. Doch dann melden sich die
Dämonen in Ömer: Zweifel, Unsicherheit, Verlockungen.
Wirre Kaffeehaus-Intellektuelle ziehen ihn in gefährliche
Abenteuer.
Sabahattin Ali war ein Bahnbrecher der türkischen Literatur.
Sein Roman ist eine Liebeserklärung
an Istanbul und seine
Bewohner. Die junge Republik hat das Oberste zuunterst gekehrt. In den
Kneipen, Tanzsälen, Konzert-Cafés, Kinos, dunklen
Werkstätten, Märkten und Straßen begegnen
sich Luxus und Armut, Absteiger und Neureiche. (Unionsverlag)
Buch
bei amazon.de bestellen
Mario Levi: "Istanbul
war ein Märchen"
Istanbul: Stadt der tausend Seelen, der tausend Schicksale, der tausend Sprachen
...
Mario Levi ist dort aufgewachsen. "Istanbul war ein Märchen"
beschreibt die Stadt seiner Kindheit. Er führt den Leser durch die steilen,
verschlungenen Gassen die Stadt hinauf und hinab zu den Ufern des Bosporus, erzählt
vom Miteinander der unterschiedlichen Völker und Kulturen, von Juden, Griechen,
Armeniern und Türken.
Seit mehr als 500 Jahren haben Juden aus aller Welt am Bosporus eine neue Heimat
gefunden. Sie pflegen ihre Bräuche, feiern ihre Feste, erinnern an die
Verfolgung und das erlittene Leid. Ausgehend von seiner eigenen Familie und
deren Geschichte, entwirft Levi ein Kaleidoskop menschlicher Schicksale. Es sind
Geschichten von gelebten und ungelebten Träumen, von erfüllten und unerfüllten
Hoffnungen. Levi erzählt von Madame Estrella, die ihre Familie verlässt, um
einen Muslim zu heiraten; von Monsieur Jacques, der mit seinem patriarchalisch
geführten "Laden" eine vielköpfige Familie ernährt, und von dessen
Bruder Nesim, den seine Liebe zur deutschen Kultur nicht vor dem KZ bewahrt; von
Robert, dem Spieler und Lebemann, und der kinobesessenen Tilda; von
aufopferungsvollen Frauen wie Madame Roza, Eva und Rahel, die aus ihrem
Schweigen Kraft gewinnen, und von jungen Leuten, die sich der Tradition
entziehen und auswandern. (Suhrkamp)
Buch
bei amazon.de bestellen
Izzet Celasin: "Schwarzer
Himmel, schwarzes Meer"
Liebesgeschichte, politisches Buch und Entwicklungsroman in einem - "Schwarzer
Himmel, schwarzes Meer" handelt von den politischen Wirren und bürgerkriegsähnlichen
Zusammenstößen in der Türkei der Jahre 1977-1981 und von den persönlichen
Entscheidungen, die ein junger Mensch in dieser Zeit treffen muss.
Istanbul, 1977. Der 18-jährige Schüler Eiche nimmt zum ersten Mal an einer
1.-Mai-Kundgebung teil. Als die Demonstranten auf dem Taksin-Platz beschossen
werden und Panik ausbricht, lernt Eiche die charismatische Zuhal kennen, die ihn
in Sicherheit bringt. Zuhal gehört der revolutionären Studentenbewegung an,
und durch sie erkennt Eiche, dass er Stellung beziehen muss. Obwohl er eine
Freundin hat, die er heiraten will, kann er Zuhal nicht vergessen, und als sie
tatsächlich erneut in sein Leben tritt, verfällt er ihr endgültig. Er verlässt
seine Freundin, schließt sich nach der Schule der Studentenbewegung an und
begleitet Zuhal zu politischen Kundgebungen. Doch als sie radikaler wird in
ihren politischen Kämpfen, verliert er sie erneut aus den Augen ...
In diesem atmosphärisch dichten, ereignisreichen Roman wird eine Zeit wieder
lebendig, in der politische Ideale das Zusammenleben bestimmten und in Istanbul
gerade die türkischen Frauen nach Freiheit und Unabhängigkeit strebten und
entschlossen waren, sich das zu nehmen, was ihnen zusteht. (Kiepenheuer &
Witsch)
Buch
bei amazon.de bestellen
Barbara Yurtdas: "Istanbul.
Ein Reisebegleiter"
Istanbul ist eine Literaturstadt. Barbara Yurtdas führt in acht Spaziergängen
durch die Gassen und Basare, Paläste und Bäder, zu den Prinzeninseln und ans
Ende des Bosporus, in Moscheen, Kneipen und Bordelle. Der Leser erlebt die
faszinierende Stadt mit den Augen der Schriftsteller, besucht das plüschig-luxuriöse
"Pera Palas Hotel", in dem
Agatha
Christie ihren "Mord im Orientexpress" schrieb, oder den
Friedhofshügel in Eyüb, wo Pierre Loti sein Liebesnest mit der schönen
Aziyadeh ansiedelt. Für europäische und us-amerikanische Autoren wie
Umberto
Eco, Stefan
Zweig, Gerd Heidenreich,
Barbara Frischmuth, Konstantinos Kavafis, James
Lovett, Graham
Greene und viele Andere war Istanbul ein poetischer Ort. Durch ihre Texte
ebenso wie durch die Romane, Erzählungen und Gedichte türkischer
Schriftsteller bekommt die Topografie der Stadt eine ganz andere Dimension, ein
geheimes Leben. (Insel)
Buch
bei amazon.de bestellen