Magnus Hirschfeld: "Weltreise eines Sexualforschers"
Reizvoller Reisebericht aus den
frühen 1930er Jahren mit ungewöhnlichem Schwerpunkt
Der 1868
geborene, hauptsächlich in Berlin tätige Arzt und Sexualforscher Magnus
Hirschfeld begab sich Ende 1930 auf eine Vortragsreise nach Nordamerika. Nachdem
er dort seine Verpflichtungen erfüllt hatte, entschied er sich spontan, nicht
über den Atlantik heimzukehren, sondern die Welt zu umrunden und somit über
Hawaii, Japan und den asiatischen Kontinent zurückzureisen. Die Kosten bestritt
er durch die Einkünfte aus 176 Vorträgen in 500 Reisetagen: Wo immer er eintraf,
waren seine Kenntnisse und Einschätzungen gefragt. Er selbst wiederum nutzte die
Gelegenheit, die Menschen in den von ihm bereisten Ländern bezüglich seines
Fachgebiets zu beobachten und zu befragen.
Hirschfeld, der übrigens als
Vorläufer Kinseys gilt, ging es dabei wenig um Sexualpraktiken. Vor allem
interessierte ihn der Umgang der Öffentlichkeit und der jeweiligen Religion mit
dem Thema "Sexualität", unter anderem auch Homosexualität, Geburtenregelung und
Prostitution, die Stellung der beiden Geschlechter, die Art und Weise, wie Ehen
gestiftet und vollzogen werden, aber auch Geschlechtskrankheiten und Probleme
wie Unfruchtbarkeit und Impotenz.
Sein Bericht ist eine hochinteressante
Momentaufnahme aus der Zeit zwischen den Weltkriegen. Beredt und sehr
teilnahmsvoll schildert Hirschfeld aber nicht nur die gegenwärtige Lage in
sexualmedizinischer und -ethischer Hinsicht, sondern auch die politische
Situation in Asien und Nordafrika. Hirschfeld hatte viele bedeutsame Kontakte zu
Politikern, Medizinern und Naturwissenschaftlern. Japans Expansionsgelüste,
China unter der Kuomintang-Diktatur, die Philippinen als unwillige Kolonie der
"freiheitsbringenden" USA, Indien in der Zeit der Auflehnung gegen die britische
Herrschaft, ein nur zum Schein vom Empire gelöstes, abhängig gehaltenes Ägypten,
Palästina zerrissen durch den Konflikt zionistischer, von der
Balfour-Deklaration angelockter jüdischer Einwanderer mit den alteingesessenen
Arabern: Manches öffnet die Augen für die gern vergessenen und dennoch
folgeträchtigen außereuropäischen Krisen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs,
anderes mutet erschreckend aktuell an. Vergleicht man die Haltung in den von
Hirschfeld bereisten Ländern gegenüber dem Geschlechtlichen mit der heutigen
Situation, so ist das Resultat, besonders aus der Sicht der Frau, in den meisten
Fällen ziemlich bestürzend: Ein Fortschritt lässt sich nach über siebzig Jahren
kaum erkennen.
Die Qualität von Hirschfelds wissenschaftlicher Methodik scheint mitunter zweifelhaft;
ihm mitgeteilte offensichtliche Absurditäten (z. B. 80 - 90 cm große, in Baumnestern
lebende menschliche Zwergvölker, S. 205) übernimmt er unkommentiert. Seine eigenen
Beobachtungen und Rückschlüsse hingegen sind bestechend klar und vor allem objektiv.
Selbst Jude, Homosexueller und Sozialist, zeigt er deutlich die Probleme unterdrückter
Minder- und Mehrheiten auf, engagiert sich für die Unabhängigkeit von Kolonien
mit einer breiten gebildeten Oberschicht, für die Anerkennung der Vererbung
als Ursache der
Homosexualität
(die zu dieser Zeit als behandlungsbedürftige Krankheit galt), für die Gleichstellung
der Frau, für die Beseitigung von Zuständen, die Frauen in die
Prostitution
treiben, gegen jegliche Form des Rassismus, gegen die Beschneidung von Mädchen
und vieles mehr. Obwohl er seine Meinung niemals aggressiv äußert, ist die Botschaft
eindeutig - und leider noch immer erschreckend aktuell. Besonders behutsam widmet
sich der Jude Hirschfeld dem Krisenherd Palästina (damals unter britischer Verwaltung):
Er wirbt um Verständnis sowohl für die Juden als auch für die Araber, die sich
von den Briten getäuscht fühlen. Hirschfeld war tolerant ohne die heutige verkrampft-zwanghafte
Ausprägung. Das eingestreute Eigenlob stört da eher selten.
Es versteht sich von selbst, dass Hirschfeld den Nationalsozialisten
ein gewaltiger Dorn im Auge war. Er starb 1935 in Nizza.
Das Buch
entspricht von der hochwertigen, ansprechend-schlichten Aufmachung her dem
Anspruch der
Anderen
Bibliothek. Besondere Erwähnung verdienen die zahlreichen Fotografien,
die aus der Originalausgabe und einem weiteren Buch des Autors stammen und mit
ihrem Wert als historische Aufnahmen und ihrem Lokalkolorit das Buch
bereichern.
Eine Lektüre, die sich lohnt: unterhaltsam, nostalgisch und doch
äußerst brisant, gerade in unseren Tagen.
(Regina Károlyi; 02/2006)
Magnus Hirschfeld: "Weltreise eines
Sexualforschers"
Eichborn - Andere Bibliothek (Band Nr. 254), 2006. 447
Seiten.
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Magnus Hirschfeld wurde als Sohn eines jüdischen Sanitätsarztes am 14. Mai 1868 in Kolberg/Pommern geboren. Er war deutscher Nervenarzt, Sexualforscher und Vordenker der Homosexuellen-Bewegung. 1933 wurde die Schließung seines Instituts für Sexualwissenschaft durch die Nationalsozialisten angeordnet, das Institut ab dem 6. Mai 1933 geplündert und zerstört. Die Institutsbibliothek landete zusammen mit einer Büste Magnus Hirschfelds im Feuer auf dem Berliner Opernplatz. In Paris scheiterte der Versuch Hirschfelds, ein neues Institut zu gründen. 1934 übersiedelte er nach Nizza, wo er 1935 an seinem 67. Geburtstag starb.