Ulrich Pfisterer, Valeska von Rosen (Hrsg.): "Der Künstler als Kunstwerk"
Selbstporträts vom Mittelalter bis zur Gegenwart
Die
Magie, welche von Bildern ausgehen kann, erschließt sich erst dann in einem
ungeheuren Maße, wenn sie eingehender betrachtet werden. Haben sich die Künstler
selbst - direkt oder indirekt - als Subjekt dargestellt, mag jede Einzelheit
wichtig sein, um kunsthistorisch möglichst
verfeinert interpretieren zu können. Der
grobkörnige Blick sieht meist vor lauter Wald die Bäume nicht.
Eine Geschichte des Selbstporträts vom Mittelalter bis in die Gegenwart zu
"schreiben" war die Aufgabe der Autoren des vorliegenden Buches.
Namhafte Porträt-Forscher haben sich versammelt zum Zwecke, dem Geheimnis der
Darstellung des "Selbst" der Künstlerinnen und Künstler auf die Spur
zu kommen. Tatsächlich ist die Selbstreflexion eine Versuchung, der nicht nur
gestaltende oder bildende Künstler nicht widerstehen können.
Max
Frisch meinte einst, er "schreibe sich selbst." Das Problem der
Identität, welches der Kernpunkt seiner Schriften ist, ist in allen Künsten
mehr oder weniger stark vertreten. Da der Mensch sich immer in einen Kontext
eingebunden fühlt, wird jedes Kunstwerk Fragen über das Selbst des Künstlers
aufwerfen.
Jedes einzelne der in diesem prächtigem Buch vertretenen Selbstporträts ist es
wert, eingehend studiert und interpretiert zu werden. Die Interpretation des
Porträt-Forschers muss sich nicht mit jener des Betrachters decken. Interessant
ist der historische Kontext, in den die Bilder gesetzt sind. Psychologische oder
philosophische Aspekte runden die Interpretation eines Bildes ab.
Der Betrachter wird sich in einige Bilder "verlieben" und andere als
eher abstoßend empfinden. Das liegt in der Natur der Betrachtung. Nicht alles,
was der Mensch sieht, führt dazu, ihm Entzücken zu entlocken. Aus diesem
Grunde möchte der Rezensent jene Selbstporträts ein wenig unter die Lupe
nehmen, die ihm außerordentlich gelungen scheinen.
Viele Selbstporträts (nicht nur des Mittelalters) werden von einer christlichen
Ausprägung dominiert.
Albrecht Dürer hat sich im Jahre 1500 so dargestellt, als habe er Christus außerordentlich
ähnlich gesehen. (Mutmaßungen über das Aussehen Jesu hat es seinerzeit schon
zur Genüge gegeben.) Luca Signorelli stellte sich im Rahmen eines Selbstbildnisses
neben den Taten des Antichrist dar.
Fantastisch ist die Darstellung von
Michelangelo Buaonarroti zu nennen. Die
sixtinische Kapelle (1534-1541; Ausschnitt aus dem Jüngsten Gericht)
zeigt ihn als "entfleischtes" Subjekt. Bartholomäus hat eine Haut in
Händen, deren Gesichtszüge jenen des Künstlers ähneln. Freilich wurde
kunsthistorisch lange darüber gerätselt, was es damit auf sich hat.
Mittlerweile mag erwiesen sein, dass es sich bei der Haut um den Künstler
selbst handelt. Die individuelle Heilserwartung von Michelangelo kann
gleichzeitig als seine persönliche Auferstehungshoffnung interpretiert werden,
wodurch sich die halb verborgen gemalte individuelle Eschatologie im Bild der
universellen Eschatologie widerspiegelt.
Frans Floris hat sich 1556 des Evangelisten Lukas angenommen und ihn abgebildet.
Der Evangelist malt die Madonna, und es gilt als gesichert, dass sich der Künstler
als Gehilfe ins Bild gesetzt hat.
Michelangelo Merisi da Caravaggio tat etwas besonders "Verrücktes": Er gab dem
abgeschlagenen Haupt Goliaths seine eigenen Gesichtszüge (1609/1610,
David
mit dem Haupte Goliath).
Gian Lorenzo Bernini bildete eine "verdammte Seele"
(1619) ab, die nichts Anderes als ihn selbst darstellt. Hierbei schuf er eine
Büste, wobei es sich um einen Teil eines Büstenpaares handelt. Es geht (wie
bei Michelangelo Buanarottis Ausschnitt aus dem Jüngsten Gericht) um
die Thematik der individuellen Eschatologie. Zwei Menschen sind soeben von Gott
gerichtet worden; zu ewiger Seligkeit der Eine, zu ewiger Verdammnis der Andere.
Dies fußt in der Vorstellung des Mittelalters, die menschliche Seele werde nach
dem Tode in die unmittelbare Anschauung Gottes eintreten, und im Sinne eines
individuellen oder "Sondergerichts" könne sie mit der Höllenstrafe sanktioniert
werden. Die Gesichtszüge der "verdammten Seele" hat Bernini sozusagen im Spiegel
studiert. Einzelheiten machen Merkmale des "Rindermenschen" deutlich; sind also
animalisch, und könnten selbst bei totaler Seelenpein so nicht auftreten. In
punkto negativer Selbstdarstellung bleibt Berninis Werk wohl unerreicht.
Die Darstellung von Francisco de Zurbaran (1660/64) ist von besonderer
Bedeutung. Der Porträt-Forscher erwähnt die Vorstellung der Gleichzeitigkeit
nicht; der Rezensent jedoch tut es. Der Maler vor dem Gekreuzigten mit
seiner Palette stehend sieht auf zu Christus und hat seine rechte Hand am
Herzen. Er ist ergriffen vom schrecklichen Kreuzestode Jesu. Es ist zu wenig
gesagt, von einem Dialog zwischen dem Maler und dem Gekreuzigten zu sprechen.
Die kierkegaardsche Gleichzeitigkeit ist hier unmittelbar zum Ausdruck gebracht.
Das ist mehr als bloße Symbolik. Der Maler sehnt sich in die Gleichzeitigkeit
mit Jesu hinein. Ganz ohne Zeitreise fühlt er mit Christus mit.
Es ist freilich ein sehr weiter Sprung zu Felix Nussbaum. Hier fällt es schwer,
nicht ergriffen zu sein. Dazu bedarf es keiner christlichen Vorstellungen. Felix
Nussbaum porträtierte sich im Jahre 1943 mit Judenstern und Judenpass. Der Pass
entspricht in seinen Details der in der Nazi-Zeit herrschenden Realität. Die Düsternis
dieses Bildes lässt das Herz für kurze Zeit schweigen. Nussbaum nahm sich in
früheren Jahren vorrangig als Künstler wahr. Im Jahre 1943 sollte das anders
sein. Die ihm von außen auferlegte Persönlichkeit des verfolgten Juden hat er
in seinem Selbstbildnis mit Judenpass dargestellt. Zur Entstehungszeit
des Bildes lebte Nussbaum mit seiner Frau seit acht Jahren im belgischen Exil.
Er wurde im Lager St. Cyprien in Frankreich interniert, flüchtete und kehrte
ins besetzte Belgien zurück. Er wohnte mit seiner Frau dort in wechselnden
Unterkünften und blieb spätestens seit 1941/42 versteckt. Im Juni 1944 wurde
das Ehepaar denunziert und mit dem letzten Transport von Mecheln nach Auschwitz
deportiert, wo Beide ihr Leben lassen mussten. Durch das vorliegende Selbstporträt
bringt er seine Identifikation mit dem Schicksal aller heimatlos gewordenen,
verfolgten Juden während des nationalsozialistischen Regimes zum Ausdruck. Er
ordnet seine künstlerische Selbstreflexion der Zugehörigkeit zum Judentum
unter.
Von den wenigen Selbstporträts von Frauen möchte ich als Beispiel Guadalupe
Carpio erwähnen, die in den 1860'er Jahren ihr Selbstbildnis mit Familie
anfertigte. Sie steht vor einem Gemälde, das ihren Gatten zeigt. Zudem sind
ihre beiden Kinder und ihre Mutter zu sehen. Die mexikanische Künstlerin gehörte
der Oberschicht an, und die Malerei war keineswegs ihr Broterwerb. Zusammen mit
Gesang, Tanz, Musik, Handarbeit und Zeichnen galt sie als angemessene Beschäftigung
für höhere Töchter. Frauen waren zwar ab dem 19. Jahrhundert zu einigen
Kursen des akademischen Unterrichts zugelassen; allerdings wurde ihnen das
Aktzeichnen verwehrt, wodurch sie in der höchsten akademischen Disziplin, der
Historienmalerei, kaum vertreten waren.
Über viele andere Selbstporträts könnte noch geschrieben sein.
Andy Warhol,
Pablo
Picasso, Rembrandt, um mal ein paar allgemein bekannte Maler zu nennen. Was
dieser erstaunliche Bildband offenbart, ist die Vielfalt von Selbstoffenbarungsmöglichkeiten
bis hin zur ständigen Maskierung, wie sie etwa die Fotos von Cindy Sherman
(1978) offenbaren.
Eine abseits der Christologie angesiedelte "Gleichzeitigkeit"
demonstriert Max Ernst mit seinem Au rendez vous des amis (1922). Neben
Zeitgenossen hat er Raffael und F.M.
Dostojewski ins Bild gesetzt und damit sozusagen die Fiktion einer Fiktion
geschaffen.
Die Qualität der Bilder spricht für sich. Der Betrachter mag sie auf sich
wirken lassen; dann lässt sich ein hoher Kunstgenuss nicht vermeiden. Mit
diesem Buch ist die Geschichte der Selbstporträts vom Mittelalter bis in die
Gegenwart wunderbar illustriert. Welche "Lesart" der Betrachter wählt,
wird individuell verschieden sein. Der Rezensent ist insbesondere von den
christlichen Ausprägungen fasziniert. Und er möchte gerne am Ende nochmals erwähnen,
dass er dem Bild von Felix Nussbaum eine außerordentliche Bedeutung - nicht nur
im Kontext der
Kunstgeschichte
- zumisst.
(Al Truis-Mus; 09/2005)
Ulrich Pfisterer, Valeska von Rosen (Hrsg.):
"Der Künstler als Kunstwerk"
Reclam, 2005. 207 Seiten, 85 Farbabbildungen.
ISBN 3-15-010571-4.
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Ulrich Pfisterer ist
Juniorprofessor am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg. Sein
besonderes Interesse gilt der Frühen Neuzeit sowie der Forschungsgeschichte und
Methodik des Faches.
Valeska von Rosen ist Forschungsstipendiatin am Max-Planck-Institut für
Kunstgeschichte, der Bibliotheca Hertziana,
in Rom. Ihre Forschungsschwerpunkte
liegen auf der
Malerei der Frühen Neuzeit samt ihren Verbindungen zu Poetik und
Rhetorik, der zeitgenössischen Fotografie sowie methodischen Fragestellungen.