Jean-Pierre Crittin: "Selbstbestimmt und erfolgreich lernen"
Fähigkeiten aufbauen statt Wissen anhäufen
"Man kann einen anderen nur belehren,
wenn man ihn dafür gewinnen kann, selbst zu denken und zu lernen". (André Kesper) Jean-Pierre Crittin: "Selbstbestimmt und erfolgreich lernen"
Mit dem Zitat von Thomas
Aquin eröffnet der Autor Jean-Pierre Crittin sein Fachbuch für Ausbilderinnen
und Ausbilder.
Crittin ist psychologischer
Unternehmensberater,
Coach und Ausbilder. Er berät
renommierte Unternehmen und "Non-Profit"-Organisationen in der Schweiz und im
Ausland in Bildungsfragen und hat sich auf das Entwickeln von Schulungskonzepten
spezialisiert. Im selben Verlag erschien von ihm das Handbuch "Erfolgreich unterrichten",
mittlerweile in der vierten Auflage.
"Selbstbestimmt und
erfolgreich lernen" ist ein Titel, der Erwartungen weckt! Dass das Thema auf
dünnen 134 Seiten abgehandelt wird, löst vielleicht auch das eine oder andere
Misstrauen aus. Immerhin werden zum selben Thema zahlreiche, weit umfangreichere
Werke publiziert.
Der Autor begegnet
dem Anspruch, neue Wege erfolgreichen Lernens aufzuzeigen, mit der Idee des
"Situationsbasierten Lehrens und Lernens" - kurz SBL -, das er aus verschiedenen,
bereits bekannten und erprobten Konzepten abgeleitet hat: So ist zum Beispiel
das inhaltlich fast identische "Problembasierte Lernen" (PBL) schon seit einigen
Jahren mehr oder weniger etabliert. Crittin verweist allerdings auf seinen eigenen
Ansatz und spricht nicht von Problemen, sondern von Ausgangssituationen, von
denen aus sich die Lernenden auf den Weg machen sollen. Realistische und alltägliche
Situationen sollen für die Lernenden Anlass und Motivation sein, selbst konkrete
Lernziele festzulegen. Dabei sollen weniger ein vorgefasster Lehrplan und die
Lehrperson, als vielmehr die tatsächlichen Bedürfnisse der Auszubildenden die
selbstverantwortliche Lernarbeit bestimmen.
Die Schule bestimmt
inhaltlich nur die groben Lernfelder, die den Lernenden in sogenannten Problemsituationen
präsentiert werden. Die Lernenden entscheiden dann selbstständig, welche Aspekte
ihnen besonders wichtig erscheinen und in welcher Form sie diese Aspekte angehen
möchten. Sie sollen dann - einzeln oder in Teams - im Beisein einer Tutorin
oder eines Tutors die Situation bearbeiten und zu einer persönlichen oder Teamzielsetzung
kommen. In Präsentationen wird durch die Tutorin beurteilt, ob ein Team oder
eine Einzelperson das Ziel erreicht hat oder nicht. Crittin grenzt seine Lernform
klar vom traditionellen Gruppenunterricht ab, indem er aufzeigt, dass die Lernenden
im SBL weit mehr Initiative und Verantwortung für ihr
Lernen übernehmen.
Die Ausführungen zum
selbstverantwortlichen Lernen inspirieren. Es gelingt Crittin, den pädagogisch
interessierten, anspruchsvollen Leser mit seinen sauber aufgebauten Beispielen
und mit klaren Vorstellungen zu fesseln. Die einzelnen Elemente werden gut verständlich
und greifbar erläutert, und die vielen konkreten Vorschläge zur Umsetzung machen
Lust auf Innovation. Und die These, dass der Fähigkeit, Probleme zu lösen, bedeutend
mehr Gewicht beizumessen sei, als dem reinen Faktenwissen, überzeugt.
In einem eigenen Kapitel
stellt der Autor die psychologisch-pädagogischen Hintergründe seines Ansatzes
vor. Ins Zentrum stellt er dabei die personzentrierte Psychologie von Carl.
R. Rogers mit den Schwerpunkten Transparenz,
Empathie und Wertschätzung, welche
die Grundlage eines lernfördernden Klimas im Unterricht bilden sollen.
Crittin ermutigt dazu,
SBL nicht nur in der Erwachsenenarbeit, sondern in kleinen Schritten auch in
Kindergarten und Volksschule zu integrieren. Er schlägt vor, in einer Projektwoche,
oder in einzelnen Fächern, etwa im Bereich Mensch und Umwelt, erste Erfahrungen
zu sammeln. Wichtig wäre seiner Meinung nach, dass unmittelbare und möglichst
naheliegende Themen aufgegriffen würden.
An dieser Stelle fragt sich der Schreibende, ob unsere Volksschule dem Prinzip
des "Situationsbasierten Lernens" nicht bereits viel näher kommt, als etwa die
traditionelle gymnasiale Lehrpraxis. Schließlich hat sich in der Primarschule,
im Gegensatz zu manch höheren Schulstufen, auch der, mindestens im Grundanliegen
verwandte, individualisierte Unterricht mehrheitlich durchgesetzt.
Situationsbasiertes
Lernen in der Grundschule? Eine der formulierten Grundaussagen des Buches könnte
jedenfalls durchaus als Motto für einen modernen Volksschullehrplan stehen:
"SBL ist freies Lernen in einem stark strukturierten Rahmen!"
Haupt Verlag, 2004. 134 Seiten.
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