Bernhard Seiter: "Elf Finger"


Skurrile Großstadtlektüre
Ein fünfjähriger Junge fährt das erste Mal allein elf Stationen mit der U-Bahn


Dem kleinen unabhängigen österreichischen Picus Verlag, unter dem Logo des pochenden Spechts, sind neben aufklärerischem Impetus, Weltoffenheit, Sinn für Ästhetik und Lebenslust auch Ideen des Grenzüberschreitenden und intellektuelles Engagement wichtig.

Bernhard Seiter, der sich bisher vor allem als Drehbuchautor einen Namen gemacht hat, liefert mit seinem Buch "Elf Finger" eine solche intellektuelle Grenzüberschreitung. Derweil scheint das Thema, das er sich für sein Romandebüt gewählt hat, recht simpel: Jacob - ein kleiner fünfjähriger Junge - möchte einmal allein U-Bahn fahren, ohne Mutter und ohne Kindermädchen. Wirklich ganz allein!

Wer hat diese Entwicklungsphasen nicht schon selbst durchlebt? Einmal allein in den Kindergarten oder zum Einkaufen gehen, einmal allein mit der Straßenbahn fahren, das erste Mal allein ins Ferienlager fahren. Derlei Suchen nach Selbstständigkeit gibt es viele und zwar in jedem Alter. Doch Jacob ist erst fünf und kann nur bis zehn zählen. Die ausgewählte Strecke reicht jedoch über elf Stationen. Also müssen die Finger her: beide Hände und noch einmal einer. Dort wartet seine Mutter, und dann soll er aussteigen. Also, "was konnte schon passieren, in den dreißig Minuten, die die Reise (...) allerhöchstens dauern mochte?"

Was der Einen am Ausgangspunkt A recht ist (Jakobs Kindermädchen möchte unbedingt ins Kino), erzeugt bei der Anderen (der Mutter am elf Stationen entfernten Ziel) ein mehr als ungutes Gefühl. Der überaus schüchterne Bub, "sonst war er allzu vorsichtig", traute sich auf einmal etwas zu, "viel zu viel!"

Schon der Beginn des Abenteuers erscheint mehr als merkwürdig. Alle Fahrgäste steigen aus der U-Bahn aus, und als diese sich wieder in Bewegung setzt, sitzt Jakob als Einziger im Abteil, ja gar im ganzen Zug. Leer, völlig leer, verlässt die U-Bahn den Bahnhof. "Um diese Zeit? Um sieben Uhr abends?" Doch er bleibt nicht lange allein. Schon bald steigen Fahrgäste zu. Aber was für welche! Da nehmen ein als Blinder verkleideter "Kinderentführer" und ein verwahrloster Drogenverkäufer Platz, lärmende italienische Schlachtenbummler bestürmen Jakob. Und die wackelnden Haltegriffe sehen doch eigentlich wie bedrohliche Galgen aus? Jakob hat Angst und entspinnt immer mehr gruselige Fantasiegeschichten. Seine Finger, die eigentlich die Stationen zählen sollen, werden für andere Sachen benötigt, eine Pistole zur Dämonenabwehr zum Beispiel. Ganz schnell verliert er den Überblick über seine "Rechenmaschine".

Die U-Bahn-Fahrt Jakobs und dessen Ängste und Fantasiegespinste konzipiert Bernhard Seiter als Rahmenhandlung. Dabei räumt er der am Zielbahnhof wartenden Mutter Jana einen eigenen "Gedankenspielraum" ein. Der Autor lässt sie an ihre ehemaligen Liebhaber, ihre beste Freundin und natürlich immer wieder an die Gefahren, denen der kleine Junge vermutlich ausgesetzt ist, denken.
Um diese Zwei herum platziert er weitere, zum Teil skurrile Nebenschauplätze. So zum Beispiel Paul, ursprünglich ein erfolgreicher Unternehmer, der sich jedoch nach und nach aus seinem normalen Leben zurückzog und eine sonderbare eigenbrötlerische Existenz begann, in der er zusehends vereinsamte und verwahrloste.
Oder aber Kater Bruno, der seiner Besitzerin bereits als Kätzchen davonlief und ein streunender Straßenkater wurde, ehe er von einem "Frl. Slanar" aufgelesen, gepflegt und in ihre Wohnung gesperrt wurde.

Ein Gedanke folgt dem nächsten. Und alle Agierenden scheinen irgendwie zusammenzugehören. Bernhand Seiter versucht aus divergenten Wollknäueln ein farbfreudiges, kohärentes Netz zu stricken. Doch mitunter harmonieren die einzelnen Fäden nicht stimmig. Vor allem die Nebenhandlungen prägt ein erschreckend düster-deprimierender und mitunter zu abstruser Impetus. Hier ist seine "Farbwahl" zu schrill und konträr. Statt eines homogenen Gefüges entsteht ein unharmonischer Wirrwarr.
Die eigentliche Romanhandlung, die Fahrt in der U-Bahn, die Ängste von Mutter und Sohn, das Erinnern und bange Warten, verliert dadurch Bedeutung, wird an die Seite gedrückt und kann sich nicht entfalten.
Positiv hervorzuheben ist jedoch die authentische Sprache. Bernhard Seiter holt den Leser direkt zu dem kleinen Jungen in die Dunkelheit der U-Bahn-Schächte.

Fazit:
"Elf Finger" ist eine skurrile, temporeiche Großstadterzählung, die mit einer U-Bahn-Fahrt vieles gemeinsam hat: Sie verlagert sich von dunkel nach hell, ist einmal laut, dann wieder leise, wechselt von rasanter Schnelligkeit in stockende Langsamkeit. Insgesamt jedoch mangelt es an einem schlüssigen "Bauplan" und harmonischer "Weichenstellung".

(Heike Geilen; 09/2007)


Bernhard Seiter: "Elf Finger"
Picus Verlag, 2007. 125 Seiten.
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