Wiebke von Bernstorff: "Fluchtorte"

Die mexikanischen und karibischen Erzählungen von Anna Seghers


Frauenrollen

'Die mexikanischen und karibischen Erzählungen von Anna Seghers' (Untertitel) werden hier neu interpretiert. Dabei geht es um die beiden Erzählungen (Seghers spricht immer wieder von Novellen) 'Crisante' (1950), 'Das wirkliche Blau' (1967) sowie den Zyklus 'Drei Frauen aus Haiti' (1980) dieser Autorin (1900-1983), die in der DDR ihre sehr eigene "sozialistische" Rolle definierte. Geboren in Mainz als Netty Reiling, heiratet sie 1925 den Kommunisten und Soziologen Lászlo Radványi, seit 1927 publiziert sie unter dem Pseudonym Seghers, etwas später als Anna Seghers. 1928 Eintritt in die KPD, ab 1929 Mitarbeit im 'Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller'; nach einer kurzzeitigen Verhaftung durch die Gestapo flüchtet sie 1933 nach Paris, wo sie u.a. auch mit Walter Benjamin zusammentrifft, 1940 nach dem Einmarsch der deutschen Truppen Flucht nach Mexiko, wo 1942 ihr Roman 'Das siebte Kreuz' erscheint der 1944 in den USA verfilmt wird.

In ihrem Essay 'Aufgaben der Kunst' (1944/48) konstatiert Seghers die Untrennbarkeit von Kunst, Politik und Leben. Erst 1947 kehrt sie nach Deutschland zurück, wird Mitglied der SED, 1948 Vizepräsidentin des 'Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands', 1950 Präsidiumsmitglied des Weltfriedensrats, 1952 Mitbegründerin und Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der DDR und 1980 erhält sie den Ehrentitel 'Held der Arbeit'. Somit war sie also eine wichtige Größe im DDR-Kulturleben und eine(r) der prominentesten Repräsentanten Ostdeutschlands. Der Preis dafür war wohl, dass sie zu Prozessen gegen und Ausschlüssen sowie Ausbürgerungen kritischer Autoren (u.a. Heiner Müller, Wolf Biermann) schwieg. Wiewohl sie sich dem Sozialistischen Realismus verpflichtet fühlte, ist ihre Prosa von hohem literarischen Wert. Sie nimmt ihre Stoffe aus der Renaissance, aus Ostasien, der Karibik und Mexiko, dabei schreibt sie über die kleinen Leute, die Benachteiligten - die sich allerdings meist nach etlichen Schwierigkeiten eine Lebensperspektive erarbeiten.

Wiebke von Bernstorff begründet ihre Beschäftigung mit Anna Seghers: "Das Anliegen dieser Arbeit ist es, durch eine genaue Textarbeit unter erzähltheoretischen Prämissen voreilige Zuschreibungen zu hinterfragen und an Stelle einer moralischen Bewertung der Autorin die Texte und deren Strukturen in den Vordergrund der Betrachtung zu stellen." Dabei stützt sie sich auf die zweibändige Seghers-Biografie (2000, 2003) von Christiane Zehl Romero, denn es erscheint ihr unerlässlich, Seghers' Exilerfahrungen als Basis ihrer karibischen und mexikanischen Erzählungen zu berücksichtigen. Bernstorff verspürt dabei einen durchaus "didaktischen Impuls": das "heldenhafte Verhalten der Frauen" bestand in der Aufrechterhaltung des "gewöhnlichen" Lebens im "gefährlichen".

In der 'Crisanta'-Erzählung gibt es letztendlich zwei Schlüsselstellen - ziemlich am Anfang und ganz am Schluss - die Titelheldin hat einen Ort der Geborgenheit, "der keinem anderen auf Erden glich' - "Ein sanftes und starkes Blau" - "Das unvergleichliche, unbegreifliche tiefe und dunkle Blau. Das war der Rebozo, das Umschlagtuch der Frau González gewesen, und was dahinter strömte, ihr Volk." So einfach bringt Seghers individuelles Wohlbefinden und kollektive Relevanz zusammen - auch wenn das Volk für die Entwicklung Crisantas keine wesentliche Rolle spielt.

Crisanta hat andererseits eigentlich zu kämpfen mit Erinnerungslosigkeit, Identitätsverlust und Ortlosigkeit - eine Figur also mit Verlusterfahrungen - und das war zu einem nicht geringen Anteil auch die Situation für Seghers - wie übrigens auch Walter Benjamin vermutete. Die zweite mexikanische Erzählung 'Das wirkliche Blau' spielt während des 2. Weltkriegs, weswegen der Töpfer Benito sein spezielles Blau nicht mehr von einer deutschen Firma bekommen kann. Er begibt sich auf eine lange mühselige Reise zu seinem Vetter Rubén, der aus dem Abfall einer Silbergrube "das wirkliche Blau" gewinnt. Nach Monaten erst kehrt Benito mit seinen gefüllten Farbbüchsen nachhause zurück. Seghers spielt hier bewusst auf Ofterdingens Suche nach der Blauen Blume an und setzt der romantischen Utopie eine materialistische entgegen. Beide Erzählungen folgen der zyklischen Struktur des Märchens, Benito lässt sich von drei Träumen leiten, auch spielen drei Frauen wichtige Rollen für ihn.

Der Erzählzyklus 'Drei Frauen aus Haiti' enthält die Texte 'Das Versteck', 'Der Schlüssel' und 'Die Trennung' - sie werden als Lebensbilanz und Vermächtnis von Seghers verstanden. In der ersten Erzählung wird die junge haitianische Frau Taoliina von Kolumbus gefangen, kann entfliehen und verbirgt sich für den Rest ihres Lebens in einer Höhle. Die zweite Erzählung handelt von einem haitianischen Ehepaar, das Touissant, dem Freiheitshelden Haitis, den Napoleon in einem Kerker gefangen hält, nach Frankreich gefolgt ist, um in seiner Nähe zu sein. Die dritte Erzählung spielt auf Haiti zur Zeit des Regimes der Duvaliers: eine letztendlich tragische Liebesgeschichte. Bernstorff liefert in dem Zusammenhang eine Darstellung wichtiger Tendenzen in der DDR-Literatur der 1970er Jahre. Die Arbeit an den drei Erzählungen fiel ja in die Zeitspanne der Eskalation des Konflikts zwischen den Schriftstellern und der Partei.

In ihrem Resümee sieht Bernstorff die Frauen bei Anna Seghers als "Stereotypen der Jungfrau, der Mutter, der Tochter, der alten weisen Frau und der Göttin" angelegt. Und sie ergänzt: "Anna Seghers stellte die Frage nach der Notwendigkeit der Opfer von historischen Prozessen immer wieder besonders anhand ihrer Frauenfiguren." Und so erscheint die neuerliche Auseinandersetzung mit einer der wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts notwendig und lohnend zugleich. Denn in gewisser Weise war für Seghers das Schreiben ihr Fluchtort.

(KS; 12/2006)


Wiebke von Bernstorff: "Fluchtorte"
Wallstein Verlag, 2006. 280 Seiten.
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Wiebke von Bernstorff, geboren 1968, studierte Kulturwissenschaften, Promotion 2005.

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Dieser Roman, der zuerst 1942 in englischer Sprache, kurz darauf im mexikanischen Exilverlag El Libro Libre in deutscher Sprache erschien, machte die Autorin weltberühmt. Der Stoff wurde 1942 in einer Comic-Fassung und in der Verfilmung des österreichischen Emigranten Fred Zinnemann 1944 in den USA populär, noch bevor der Roman die Leser in Deutschland erreichte. Von allen Werken der Seghers ist er unumstritten das bekannteste. Er wendet ein populäres, in der trivialen Unterhaltungskunst gern benutztes Erzählmuster an:
eine Fluchtgeschichte. Sieben Gefangene sind aus dem KZ Westhofen entflohen. Sie haben die längst und eindeutig gegen sie entschiedene Machtfrage neu gestellt. Mit ihrer Flucht unterlaufen sie ihre Ohnmacht und nehmen für ihre Selbstbehauptung äußerste Bewährungsproben ihrer physischen und psychischen Kräfte auf sich. Aber nur einem von ihnen gelingt die Flucht.
Sie habe mit dieser Fluchtgeschichte, sagte Anna Seghers, die Struktur des ganzen Volkes aufrollen wollen. Aus der Perspektive des sozialen Romans schafft sie die bedeutendste analytische Darstellung der nationalsozialistisch formierten Gesellschaft. Der Roman zerlegt die Motive der funktionierenden Mitmacher, der kalkulierenden Karrieristen, der eingeschüchterten früheren Oppositionellen, der Funktionsträger des Regimes und derjenigen, die dem Flüchtling helfen. Das Nachwort zur Entstehung und zur Rezeption macht deutlich, inwiefern Anna Seghers versuchte, einem Weltzustand, den sie keineswegs beschönigt, so etwas wie eine Hoffnung abzutrotzen, und wie das Gelingen des Romans damit zu tun hat, dass die Suggestion der Hoffnung ständig ihre Widerlegung mit sich führt.
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