Thomas Böhm / Andreas Blühm (Hrsg): "Bilder. Geschichten"
Schriftsteller sehen Malerei
Literarische
Bildbetrachtung
Der Programmleiter des Kölner Literaturhauses Thomas
Böhm und der Direktor des Wallraf-Richartz-Museums Andreas
Blühm haben 19 deutschsprachige Autoren animiert,
Gemälde auszuwählen und darüber zu
schreiben. Damit wird quasi eine Tradition fortgesetzt, in der immer
wieder Literaten Zugänge zu diversen Werken eröffnet
haben, wie etwa Charles Baudelaire, Emile Zola oder
Susan
Sontag. Entstanden ist daraus ein Buch bei Luchterhand mit
allen 19 Beiträgen - sowie die vorliegende CD mit leider nur
elf Autoren, die ihre Texte immerhin selbst lesen. Herausgekommen ist
eine sehr persönliche Sammlung literarischer Kunst-Geschichten
unterschiedlichster Art: teilweise werden die Bilder beschrieben,
teilweise fantasievoll interpretiert, teilweise werden biografische
Schlaglichter geworfen, teilweise entstehen mehr oder weniger
eigenständige assoziative Texte. Die Autoren
äußern sich engagiert und kompetent, feinsinnig oder
respektlos, enger am Bild oder an der eigenen Person - immer hat man
das Gefühl, dass ein sehr individueller Zugang gefunden wurde.
Stendhals rauschartiger Zustand angesichts der
überwältigenden florentinischen Kunst ist als
"Stendhal-Syndrom" sprichwörtlich geworden - bei den hier
präsentierten Autoren hat man doch mehr den Eindruck, dass
eher der Intellekt die Kunstbegegnung dirigierte. Wir sind eben doch -
frei nach
Walter Benjamin - längst in fortgeschrittenen
Zeiten, in denen Kunstwerke das Auratische verloren haben. Allerdings
scheint bereits die Auswahl der Bilder ein bestimmtes Licht auf den
Charakter des Autors zu werfen. Bedauerlich ist, dass die
Beiträge der Buchausgabe von Katrin Askan,
Bettina
Galvagni,
Navid
Kermani, Steffen Kopetzky, Michael Lentz, Sabine Schiffner,
Leander Scholz und Katrin de Vries nicht auf der CD Platz fanden. Dabei
sind immerhin Günter Wallraff, Dieter Wellershoff, Norbert
Hummelt, Ulrike Draesner,
Marcel Beyer,
Guy
Helminger, Jürgen Becker, Monika Maron, Georg Klein,
Roswitha Haring und
Hanns-Josef
Ortheil.
Günter Wallraff, der sich Vincent van Goghs 'Die Bauernkate
von Nuenen' vornahm, wählte als Titel seiner
Ausführungen ein Zitat aus van Goghs Briefen: "Auf der
Akademie werden sie mich nicht wollen". Damit spielt er auch auf seine
eigenen frühen vergeblichen Versuche an, an der Kunstakademie
angenommen zu werden. Sein Beitrag ist autobiografisch
eingefärbt - und ist im Grunde eine
Solidaritätserklärung an van Gogh. Er spricht sich
gegen die klassisch sakrosankte Kunst aus und erinnert sich an seine
Schwärmerei für Max Ernst. Dem von ihm hier
ausgewählten Bild spricht er seine einzigartige Bedeutung
dadurch zu, "dass Leben und Werk eines genialen Künstlers
untrennbar miteinander verbunden sind." Van Gogh identifizierte sich
mit den Bauern von Nuenen, indem er mit ihnen lebte, als er das Bild
malte - er bezeichnete sich selbst als "Bauernmaler". Wallraff
imponiert offensichtlich, dass der Maler zwar ärmlich, aber
charakterfest lebte - und die arbeitenden Menschen malte - und zwar im
Freien an Ort und Stelle.
Van
Gogh arbeitete über Monate bis zur
Erschöpfung an diesem bedeutendsten Werk seiner sogenannten
"dunklen Periode". Er selbst tauschte manchmal ein paar Zeichnungen
gegen ein paar Kartoffeln ein.
In seinem Beitrag 'Mörderische Zärtlichkeiten'
befasst sich Dieter Wellershoff mit James Ensors 'Mädchen mit
Puppe'. Er sieht das Mädchen als Damendarstellerin, als
"unfertige Erwachsene", der man die Kindheit gestohlen hat. In der Art,
wie Wellershoff das teilweise nur undeutlich Sichtbare deutet, wird
auch das Fragwürdige des vorliegenden Projekts deutlich - er
äußert sich in Alternativen und Vermutungen.
Ehrlicher wirkt da Ulrike Draesners Annäherung an Gustave
Courbets 'Meeresstrand': sie entwirft nämlich gleich eine
eigene naturwissenschaftlich ausbordende Geschichte, lediglich
inspiriert durch das Gemälde: "Es ist ein Himmel, der nicht
weiß, was er will." Das von der Gegenständlichkeit
vielleicht bescheidenste Stilleben-Motiv 'Imbiss mit Hering, Garnelen,
Brötchen, Salzfass, Rotweinglas und halbierter Orange' von
Pieter Claesz entdeckt Marcel Beyer für sich auf der
Durchreise in Jelenia Góra (Hirschberg, Polen). Indem er in
einem Restaurant eine Kopie betrachtet, erinnert er sich und uns an die
Vorzüge des Originals. Und dabei fällt ein sehr
interessanter Satz: "Die Welt des Pieter Claesz - in Jelenia
Góra begriff ich sie zum erstenmal als einen Teil meiner
Welt."
Eine in diesem Sinne viel intimere Annäherung gelingt Guy
Helminger mit Ferdinand Hodlers 'Bildnis der Tänzerin Giulia
Leonardi', indem er drei Ebenen schildernd verschachtelt. Banaler
dagegen wirkt, wie sich Jürgen Becker durch Max Liebermanns
'Die Rasenbleiche' an seine Kindheit erinnert fühlt -
ähnlich wie Hanns-Josef Ortheil bei Stefan Lochners
'Muttergottes in der Rosenlaube'. Das vom kompositorischen Eindruck
raffinierteste Bild hat sich Monika Maron mit Jacob Philipp Hackerts
'Italienischer Hafen bei Mondschein' ausgewählt, wogegen ihre
Darstellung eher bescheiden bleibt. Man lernt bei dem vorliegenden
Projekt auch, dass das Inspirationsvolumen bei Malern und Autoren recht
unterschiedlich ausfallen kann - bzw. dass Autoren und Maler auf
gleiche Motive eben unterschiedlich anspringen. Interessant wird dabei
sein, welche Dimensionen der Anschauung und Imagination bei den
Rezipienten durch dieses Projekt ausgelöst werden
können - man sollte es auf jeden Fall an sich heranlassen.
(KS; 01/2007)
Thomas
Böhm / Andreas Blühm (Hrsg): "Bilder. Geschichten.
Schriftsteller sehen Malerei"
Random House Audio, 2006. 1 CD; Laufzeit ca. 75 Minuten. Mit
Begleitheft.
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Buchausgabe:
Sammlung Luchterhand, 2006. 128 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
"Sonderbare Museumsbesuche. Von Goethe bis Gernhardt" gesammelt von
Walter Grasskamp
Von Menschen und Museen.
Walter Grasskamp versammelt in diesem ungewöhnlichen Buch
Texte, aus denen sich ein anderes als das gewohnte Museumsbild ergibt.
Sie handeln von Magie und Mord, Diebstahl und Konspiration, Rendezvous
und Abschied, Enteignung und Enttäuschung, weltlichem Ekel und
profaner Erleuchtung - eine unvermutete Nutzungsvielfalt für
eine nur scheinbar konventionelle Institution.
Es geht in diesem Buch um Museumsbesuche, die nicht normal ausfallen,
und um Betrachter, die hier auf andere Gedanken kommen, als sie die
lehrreiche Institution nahelegt. Sie hängen ihren erotischen
Tagträumen nach, hadern mit dem Schicksal, erinnern sich ihrer
Kindheit oder kontrollieren die anderen Besucher. Vom Tod ist die Rede,
der dem Museum
innewohnt und den es zugleich verharmlost. Selber dem Abschied
verpflichtet, bietet das Museum eine ideale Kulisse für andere
Abschiede, sei es aus der eigenen Kultur oder einer Liebesbeziehung.
Als Treffpunkt für Geheimagenten gerät es ebenso ins
Blickfeld wie als Schauplatz für Mord und Diebstahl.
Literarische Texte, Essays und Reportagen korrigieren das Bild einer
Institution, die längst so konventionell geworden ist, dass
man sich nicht mehr über sie wundert. Das kann man hier wieder
lernen.
Mit Texten u. a. von: Ingeborg
Bachmann,
Julian
Barnes, Georges Bataille,
Robert
Gernhardt, Lars
Gustafsson, Arthur Koestler,
Cees
Noteboom,
Peter Rühmkorf,
Botho Strauß,
Peter Weiss, H.G. Wells, Tom Wolfe. (C.H. Beck)
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