Ulrich Renz: "Schönheit"
Eine Wissenschaft für sich
Der andere bedeutsame kleine
Unterschied
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - alles nur ein
romantischer Wahn?
Der Gedanke drängt sich auf, wenn man Ulrich Renz' Buch
liest und sich nicht aus einer Verpflichtung gegenüber der Moral oder der
politischen Korrektheit heraus den durch zahlreiche methodisch einwandfreie
Experimente belegten Schlussfolgerungen versperrt. Wir sind nicht gleich:
Hübschere Babys und Kinder erhalten deutlich mehr Zuwendung und Zärtlichkeit als
durchschnittliche oder gar hässliche (erinnert uns das nicht an
Stifters Brigitta?), und attraktive Menschen sind bei Bewerbungen und später im Beruf
erfolgreicher. Die Ungleichheit macht sich sogar in der Justiz bemerkbar, denn
ansehnliche Menschen werden eher freigesprochen oder zumindest leichter bestraft
als unattraktive. Wir sind nicht brüderlich: Schöne Menschen treffen auf
deutlich mehr Hilfsbereitschaft als weniger schöne, und schon Kinder bevorzugen
als Freunde gut aussehende Altersgenossen. Wirklich frei sind wir offensichtlich
auch nicht, denn die Bevorzugung schöner Menschen wird unterbewusst gesteuert
und fließt zudem als wesentliches Kriterium in die Partnerwahl ein - relativiert
durch eine Abwägung der Machbarkeit. Außerdem nimmt uns die Einbindung in die
Mode, die das gängige Schönheitsideal steuert, einige Freiheit. Dies alles traf
bereits in der Geschichte zu, wie die ältesten überlieferten Texte belegen, und
es ist kein Zeichen hoch entwickelter Zivilisation; den Naturvölkern ergeht es
ähnlich.
Der Autor umreißt zunächst die
Schönheitsideale
und Moden von der Antike bis zur Gegenwart und macht damit deutlich, dass
Schönheit nicht unerheblich von Modeströmungen beeinflusst wird: Im Mittelalter
bevorzugte man Frauen mit kleinem Busen und eher üppigen Hüften, heute hingegen
sollten die Brüste groß und die Hüften fettarm sein.
Weitere Kapitel widmen
sich einer Definition von Schönheit (die nicht nur im Auge des Betrachters zu
liegen scheint und schon gar nicht von innen kommt) sowie ihrem Sinn in
biologischer Hinsicht, wobei der Autor sich nicht scheut, diametral
entgegengesetzte Theorien und Experimente vorzustellen und gegeneinander
abzuwägen. Denn der Theorien gibt es viele, und jede birgt überzeugende
Ansätze.
In einer ganzen Reihe von Kapiteln geht es schließlich um die
Auswirkungen von Schönheit, um die Vorteile, die sie ihren "Besitzern"
nachweislich bringt, aber auch um Nachteile, denn die gibt es auch; schon allein
deshalb, weil an Schöne hohe Erwartungen gestellt werden, als ob sie
Übermenschen wären - und das ist natürlich nicht der Fall.
Der letzte Teil,
sinnvoll betitelt mit "Und erlöse uns von der Schönheit?" setzt sich mit dem
aktuellen Schönheits- und
Jugendwahn
auseinander, mit seinen Auswirkungen unter anderem als Motor lukrativer
Industrien, mit dem Pro und Contra der Schönheitsoperationen - und der Frage, ob
nicht frühere und andere Leiden im Sinne der Schönheit schlimmer waren als etwa
eine Botox-Spritze, zum Beispiel das Korsett oder die auf uns grotesk wirkenden
Selbstverstümmelungen innerhalb von Naturvölkern.
Stellenweise macht die
Lektüre wenig Freude, denn wer erfährt schon gern, dass manche Aspekte des
scheinbar freien Willens,
Gefühle einschließlich der Liebe und das
Urteilsvermögen in erheblichem Ausmaß durch Millionen Jahre alte Instinkte
gesteuert werden? Etwas Mut zur Selbsterkenntnis, am besten auch einen Schuss
Selbstironie muss man da schon mitbringen. Unter dieser Voraussetzung ist das
Buch ungemein spannend, denn das Thema geht uns natürlich alle an, ob wir schön
sind, durchschnittlich oder Mauerblümchen, ob wir als Frauen (und Hauptopfer des
Schönheitswahns) Größe 38
oder 48 tragen. Der Autor weiß Beobachtungen, Experimente und Theorien ebenso
sachlich wie unterhaltsam und mit Humor gewürzt darzustellen, und seine
Einschätzungen wirken realistisch und wohlüberlegt. Anhand zahlreicher
Abbildungen kann sich der Leser im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild von den
Inhalten der Kapitel machen. Dieses Buch vereinigt und ordnet Puzzleteile, die
der an Evolution, Verhaltenslehre, Soziologie oder Anthropologie interessierte
Leser möglicherweise aus unterschiedlichen Veröffentlichungen kennt, und ergänzt
sie um ganz aktuelle Forschungsergebnisse.
Fußnoten wurden im Text bewusst
weggelassen. Sie und zahlreiche weitere ergänzende Informationen, aber auch ein
Diskussionsforum für Leser, finden sich auf der Website zum Buch, (https://www.schoenheitsformel.de/). Das Buch selbst enthält
dennoch eine umfangreiche Liste von Anmerkungen und Literaturhinweisen.
Ein
großartiges Buch, das des Lesers Bild von seinen Artgenossen und sich selbst
gravierend zu ändern vermag.
(Regina Károlyi; 04/2006)
Ulrich Renz: "Schönheit"
Berlin Verlag,
2006. 346 Seiten.
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