Robert Schneider: "Die Offenbarung"
Robert
Schneiders Roman "Die Offenbarung" hat das Zeug dazu, an den
großen Erfolg seines sensationellen und weltberühmt
gewordenen Debüts "Schlafes Bruder" anzuknüpfen.
Wieder geht es um Musik, wieder steht ein Mensch im Vordergrund der
Handlung, dessen ganze Existenz aus nichts Anderem als Musik besteht,
wieder besticht die Erzählung durch den für Schneider
typisch gewordenen fast magischen Stil sowie die Wortwahl, und wieder
ist es eine Romanvorlage, die geradezu nach einer entsprechenden
Verfilmung ruft.
Hauptperson der Handlung ist
der Organist Jakob Kemper aus Naumburg. Jahrzehnte hat er an
der dortigen protestantischen St. Wenzelskirche die Orgel gespielt, ein
durch katastrophale Vernachlässigungen während der
DDR-Zeit ziemlich heruntergekommenes Instrument, das
Johann Sebastian Bach
persönlich kurz vor seinem Tod eingerichtet hatte und auf das
Jakob Kemper sehr stolz ist.
Kemper lebt seit Jahrzehnten allein in einem baufälligen Haus,
das vor dem Zweiten Weltkrieg einem Juden gehörte, und so
befürchtet er auch nach 1989, dass er dieses Haus bald wird
räumen müssen, wenn sich Nachkommen des
früheren Besitzers melden.
Sein ziemlich grobschlächtiger Vater, ehemaliger
Bürstenmacher, steckt immer noch voll nationalsozialistischen
Gedankengutes und konnte dies als Mitglied der nationaldemokratischen
Partei innerhalb der SED auch ganz gut über die DDR-Zeit
konservieren. Er verachtet seinen musisch begabten Sohn und
fügt diesem den größten Schmerz zu, als er
dessen große Liebe Eva in zweiter Ehe heiratet. Aus dieser
Ehe entsteht der Sohn Leo, ein Stiefbruder Jakobs, zu dem er eine gute
Beziehung hat. Jakob unterrichtet ihn im Klavierspiel sowie in
Musikkunde und empfindet für Leo wie ein Vater.
Neben den privaten Unterrichtsstunden bestreitet Jakob seinen
Lebensunterhalt mit einer halben Stelle an der örtlichen
Musikschule.
Am Heiligen Abend 1992, es ist Jakobs Geburtstag, findet Leo, als er
sich mit Jakob auf der Orgelempore unterhält, im morschen
Gehäuse der Orgel einen alten, staubigen Umschlag. Jakob
Kemper öffnet diesen dicken Umschlag: Er enthält,
neben einigen persönlichen Utensilien von
J. S. Bachs spätem Schwiegersohn Altnickol, ein Autograf mit
einem bisher unbekannten Werk Bachs mit dem Titel "Die Offenbarung".
Jakob Kemper fiebert vor Aufregung, erst recht, als er das Autograf
gelesen und aufgrund seiner hohen musikalischen Begabung auch
"gehört" hat. Er sagt sofort alle Weihnachtsgottesdienste ab
und meldet sich krank. Er hat ein Stück entdeckt, das in einer
konzertanten Aufführung mindestens sieben Stunden dauern
würde, ein Stück mit bislang auch für Bach
unmöglich gehaltenen musikalischen Stilelementen. Eine
Revolution für die Bachforschung, als deren Teil sich Jakob
Kemper schon lange begreift, von ihr und ihren Hauptvertretern aber
nicht ernst genommen wird.
Jakob ist verliebt in Lucia, die nach der Wende aus dem Westen kam und
in Naumburg ein kleines Reisebüro eröffnete, dessen
Geschäfte aber mittlerweile 1992 nach der ersten Reiseeuphorie
der Ostdeutschen eher schlecht gehen. Sie ist auch die Einzige, der er
neben Leo, der absolut schweigt, von dem sensationellen Fund
erzählt. Sie rät ihm, das Autograf entsprechenden
Stellen zu übergeben, doch Kemper zögert. Zumal er
bei seinem Studium des alten Musikstückes völlig
unerklärliche Erfahrungen macht. Die Partitur dokumentiert
nämlich nicht nur Musik, sondern sie vermag Erinnerungen an
Vergangenes, Verdrängtes und Zukünftiges zu
beschwören. Diese Entdeckung wirft Jakob Kemper
völlig aus der Bahn. Johann Sebastian Bach, von dem man immer
geglaubt hat, die eher zusammengestückelte h-moll-Messe sei
sein letztes Werk gewesen, scheint am Ende seines Lebens eine Art
kosmisches Gesetz gefunden und in Musik umgesetzt zu haben, das die
Seele des Menschen gesunden lässt - oder sie in tiefste
Verzweiflung stürzt.
Kemper wechselt zwischen ausgelassener Euphorie - er wähnt
sich schon als anerkanntes und mit Preisen ausgezeichnetes Mitglied der
Bach-Gesellschaft - und heftigen Alpträumen. Noch
während er das Manuskript studiert, treffen vier hochrangige
Experten in Naumburg ein, um
die
Orgel zu begutachten, während ein Orgelbauer diese
auseinander nimmt. Einer dieser hochrangigen Gelehrten hatte Kemper
einige Zeit zuvor brüsk
abblitzen lassen, als dieser ihm einen Aufsatz über die
Beziehungen der Familie Bach zu Naumburg zusandte.
Robert Schneider lässt den Leser Zeuge köstlich zu
lesender Auseinandersetzungen dieser Experten über die
allerletzte Schaffensphase
J. S. Bachs werden. Jakob Kemper mischt sich ein und erläutert
seine These von einem bislang unentdeckten Werk, dessen Erstellung Bach
in seinen letzten Lebenswochen einfach die Zeit für eine
eigenständige h-moll-Messe genommen habe. Einzig ein Japaner
unter den Wissenschaftlern horcht auf und will auch bei einem
späteren Treffen mit Kemper mehr von dessen Theorie wissen,
die ja längst keine mehr ist.
Durch ein Malheur gerät der Umschlag mit der Partitur in das
Gepäck eines der Experten: Dr. Zinser aus Leipzig. Er und sein
Chef lesen die Partitur, aber weil nicht sein kann, was nicht sein
darf, halten sie das revolutionäre Werk für eine
Fälschung Kempers, der sich damit wichtig machen wolle, und
senden es an diesen zurück. Jakob öffnet den Umschlag
noch einmal in der Kirche, durchlebt zum wiederholten Mal die
Erfahrung, dass diese Musik die Beziehung zu seinem unter
ungeklärten Umständen ums Leben gekommenen Bruder
Karl wiederherstellt und versöhnt. Jakob Kemper sieht sich
plötzlich in aller Härte mit dem eigenen Leben
konfrontiert. Erstmals stellt er sich seiner Schuld, begreift all seine
Verfehlungen und wird ein anderer Mensch, indem er sich mit dem eigenen
Leben versöhnt und mit dem übermächtigen
Vater Frieden schließt.
Er versteckt die Mappe mit den Noten wieder dort, wo er sie gefunden
hat. Soll sie in späteren Jahren jemand finden, der sie finden
muss. Am Ende des Romans erfährt der begeisterte Leser, wie es
kam, dass der alte Bach die Noten seines Werks in Naumburg
vergaß.
Robert Schneiders wunderbarer Roman ist ein Hohelied auf die Kraft der
Musik und ein engagiertes Plädoyer für die
konsequente Suche nach den eigenen Werten im Leben. Dass der Autor der
amtskirchlichen Arbeit nicht viel zutraut, die Menschen dabei zu
unterstützen, unterstreicht er eindrucksvoll in der fast
komischen Darstellung und Schilderung des Naumburger Pfarrers, dessen
theologische Auslassungen den Rezensenten manchmal zum Lachen brachten.
Mit dieser Figur ist Schneider eine perfekte Karikatur
gegenwärtiger verwalteter Religion gelungen, die die Menschen
nicht zu sich selbst befreien kann, das letzten Endes auch
weiß und deshalb so viel von der Kirchenmusik hält,
die selbiges offenbar vermag und die Menschen noch in die ansonsten
ziemlich leeren Kirchen bringt.
(Winfried Stanzick; 11/2007)
Robert
Schneider: "Die Offenbarung"
Aufbau Verlag, 2007. 285 Seiten.
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Robert
Schneider wurde 1961
geboren. Sein Debütroman "Schlafes Bruder" wurde zum
Welterfolg (Übersetzungen
in 32 Sprachen). Außerdem veröffentlichte er die
Romane "Die Luftgängerin"
(1998), "Die Unberührten" (2000), "Schatten" (2003), "Kristus.
Das unerhörte Leben des Jan Beukels"
sowie
die Erzählung "Der Papst und das Mädchen" (2001).
"Schlafes Bruder"
"Das ist die Geschichte des Musikers Johannes Elias Alder, der
zweiundzwanzigjährig sein Leben zu Tode brachte, nachdem er
beschlossen hatte,
nicht mehr zu schlafen." Mit seinem atemberaubenden Debütroman
über das
Leben und Sterben eines musikalischen Genies in einem
österreichischen Bergdorf
gelang Robert Schneider ein sensationeller Welterfolg.
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"Die Unberührten"
"Die Unberührten“ erzählt die Geschichte
von Antonia und Balthasar,
zwei Bauernkindern aus dem Rheintal, die 1924, während der
großen Depression,
zur Kinderarbeit in die USA verkauft werden. Auf der Schiffspassage
lernen sie
sich kennen und bleiben fast sieben elende Jahre unzertrennlich. Sieben
Jahre,
in denen sie in einem Pfeiler der Brooklyn Bridge hausen, von der Hand
in den
Mund leben und Antonia ihren Körper verkaufen muss. Inmitten
all dieser
widrigen Umstände entwickelt sich eine tiefe Liebe zwischen
den beiden.
Ihr gemeinsames Leben hat ein Ende, als eines Tages Aron Fleisig, der
junge
Korrepetitor der Metropolitan Opera, Antonia
singen hört. Er bietet ihr eine
Karriere als Sängerin und seine Hand an. Antonia steht vor der
Prüfung ihres
Lebens: Bei Balthasar zu bleiben oder die Stelle im Chor der Oper
anzutreten,
endlich Englisch zu lernen und Armut und Elend zu entkommen. Sie
entscheidet
sich gegen Balthasar, nimmt Arons Heiratsantrag an und wird zu einer gefeierten
Opernsängerin.
Mit der erzählerischen und sprachlichen Gewalt dieses Romans
kehrt Robert
Schneider zu der literarischen Qualität seines Erstlingsromans
"Schlafes
Bruder" zurück. Er greift alte Themen wieder auf - so z.B. den
Antagonismus von Stadt und Land, die Magie der Musik - und
entführt den Leser
erneut in eine ganz eigene Welt der Bilder und Gefühle, eine
Welt voller
Ahnungen und Eingebungen, die einen zutiefst zu berühren
vermag. (Knaus)
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"Schatten"
Zur
Rezension ...
"Kristus. Das unerhörte Leben des Jan Beukels"
Er wollte das Paradies
und brachte die Hölle.
Die Zeit scheint aus den Fugen im 16. Jahrhundert: Der Erde droht ein
Kometeneinschlag, Seuchen wüten, und Luther predigt wider den
Papst. In jenen
unruhigen Tagen strömen beherzte Menschen hoffnungsfroh in die
kleine Stadt Münster,
denn dort verwirklichen die Wiedertäufer den Gottesstaat. Ihr
prophetischer König
ist Jan Beukels aus Leyden. Dies ist die Geschichte des Jan Beukels,
der mit
acht Jahren seinen Schulmeister mit dem Wunsch empört,
"Kristus"
werden zu wollen, der sich mit 25 zum König der
Wiedertäufer krönen lässt
und dessen Leben mit 27 erbärmlich in einem
Eisenkäfig am Lamberti-Kirchturm
endet.
Die düstere Geschichte vom Gottsucher, der zum Despoten wird,
hat in Robert
Schneider ihren sprachmächtigen Autor gefunden. (Aufbau)
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Leseprobe:
Kemper schlurfte zum Fenster, durch dessen Ritzen ein kalter Wind
hereinzog, und
blickte in den sich eindunkelnden Nachmittag hinaus, hinüber
auf die
Südfassade der Wenzelskirche. Es hatte zu schneien begonnen.
Die hilflosen
Versuche Leos, die C-Dur Invention passabel zu spielen, verfolgte er
mit
schwindender Aufmerksamkeit. Das holprige, ruckartige Klimpern, wie es
sich
unsicher von Takt zu Takt mogelte und stets an derselben Stelle
steckenblieb,
erreichte seine Ohren nur noch von fern. Als der Junge
schließlich die Hände
von den Tasten nahm, merkte es Kemper nicht. Zu sehr war er ins
Sinnieren verfallen.
Er stand am Fenster und schaute in das Schneetreiben hinaus, das
dichter wurde.
Reglos stand er da mit leicht gekrümmtem Rücken. Die
Wunde, die alte Wunde.
Als zweiter Sohn des Bürstenmachers Walter Kemper und dessen
erster
Frau Kriemhild war er 1946 in der Salzstraße Nr. 12 zur Welt
gekommen. Karl,
der ältere Bruder, starb, als Jakob sechs Jahre alt war. In
der Familie wurde
darüber kaum einmal gesprochen. Über
Thüringen hinaus kam Kemper sein ganzes
Leben nicht, sieht man von einer kurzen, glücklosen Reise nach
Berlin ab, die
er nach dem Fall der Mauer unternahm. Er war ein kränkliches
Kind gewesen, das
immerzu fror und hustete und beim Sprechen manchmal heftig mit der
Zunge schnalzte, besonders wenn ihn etwas erregte oder
aufwühlte. Deshalb
entstand der Verdacht auf Epilepsie. Fallsucht, wie es der steinalte
Hausarzt
der Kempers noch bezeichnete. Der Verdacht erhärtete sich
nicht.
Im Musikunterricht war Jakob der unbestrittene Primus, während
er sich im
Rechnen nur vertat, weshalb ihn der Mathematiklehrer "Kemper der
Stümper"
nannte. Das Wortspiel grub sich in die Kinderköpfe ein und
hielt sich
hartnäckig.
Weil das Land Bauern und Arbeiter brauchte, steckte Vater Kemper,
unmittelbar
nachdem er in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
eingetreten war,
den Sohn bei sich in die Lehre. Die Mutter schwieg dazu.
Das war eine schwierige Zeit in Jakobs Leben. Er wollte studieren,
anstatt
tagein, tagaus auf dem Schemel zu hocken, an der Hechel Ross-,
Wildschwein- oder
Ziegenhaar zu sortieren und mit heißem Pech einzukleben.
Musiker wollte er
werden, ein Komponist ersten Ranges. Nichts weniger.
Denn er hatte ein Erweckungserlebnis gehabt, und zwar im Naumburger
Dom, wo er
Zeuge eines legendären Konzerts geworden
war. Der Dresdner Kreuzchor unter seinem
berühmten wie gefürchteten Leiter Rudolf Mauersberger
veranstaltete
eine Abendmusik, wobei Mauersberger seinen
Chorzyklus "Dresden"
aufführte, in
Erinnerung an die Bombennacht vom 13. Februar
1945. Die scharfen, aufschreienden Dissonanzen,
die herbe Chromatik, die düstere Stimmung
des ganzen Werks, das alles grub sich in Jakobs Ohren
unauslöschlich ein, und als der Dirigent den Taktstock senkte
und im Dom eine bedrückende Stille entstand, ehe der Applaus
zögerlich heranrollte, hatte der Junge die Gewissheit, ein
Wunder erlebt zu haben. Der Puls hämmerte in den
Schläfen,
die Lippen waren ihm ausgetrocknet. Er fror und schwitzte
gleichzeitig. Er musste Professor Mauersberger von Angesicht
zu Angesicht gegenüberstehen, um ihm zu sagen, und
sei es unter heftigem Zungengeschnalze, dass dieser ihm das
Leben gerettet habe. Jetzt wisse er, wohin es in Zukunft mit
ihm gehe.
Also wartete er an einem Seitentürchen. Tatsächlich
schlüpften die Kruzianer,
einer nach dem andern, durch die schmale
Sandsteinlaibung, und er war schockiert über das
Gelächter
und die derben Sprüche, die die Chorsänger von sich
gaben, wo sie noch vor wenigen Minuten mit betroffenem Gesicht
Schmerz, Trauer und Resignation besungen hatten. Wie
konnte das sein?, dachte Jakob. Man kann sich doch nicht
so verstellen.
Lange darüber grübeln konnte er jedoch nicht, denn
plötzlich,
fast wie der Teufel aus der Kiste, stand Mauersberger
vor ihm. Er hatte stechende Augen, daran konnte
sich Jakob im Nachhinein noch erinnern, und er trug eine
große, schwarz eingebundene Partitur bei sich.
"Herr Professor Mauersberger", sagte Jakob deutlich und
ohne zu schnalzen, "Sie haben mir das Leben gerettet!"
Der Dirigent sah ihn gequält an. Es schien
Jakob, als laste ein ungeheurer, ja
unmenschlicher Druck auf diesem Mann, was ihn
keineswegs verwunderte, stand er doch vor einem Genie,
dessen Kopf vor lauter Gedanken sicherlich fast zu zerplatzen drohte.
"Wo kann man hier das Wasser abschlagen?", fragte Mauersberger
leidend und rannte an Jakob vorbei.
Das war die Begegnung mit dem großen Mauersberger.
Immerhin hinterließ das Zusammentreffen einen so elementaren
Eindruck,
dass er von heute auf morgen die väterliche Werkbank
mit der Orgelbank vertauschen wollte, freilich gegen
den Willen des Vaters und dessen sozialistische Überzeugung.
Für
Kemper Senior war die Kirchenmusik Ausdruck eines
dekadenten feudalistischen Systems, das nunmehr überwunden
war. Und es schmerzte ihn, dass ausgerechnet sein
Sohn Symptome zeigte, wieder in die alte Barbarei zu fallen,
rückfällig
zu werden, wie er sich ausdrückte. Das musste er
verhindern. Die Mutter schwieg dazu.
Ganz so radikal vollzog sich die Wandlung des Sohnes nicht, obwohl er
sich
anfänglich tapfer gegen den
Vater auflehnte. (...)