Oscar A.H. Schmitz: "Ein Dandy auf Reisen"

Tagebücher 1907-1912
Herausgegeben von Wolfgang Martynkewicz


Triviales aus der Schein- und Glitzerwelt der Boheme

Als eine wahre Fundgrube, als ein bedeutendes Zeitzeugnis und als große Literatur preist der Verlagsprospekt großspurig die Tagebücher des heute fast vergessenen Schriftstellers Oscar A. H. Schmitz an. Diese vollmundige Empfehlung ließ den Erwartungspegel beim Rezensenten natürlich gleich ansteigen, doch die anfänglich so hohe Erwartungshaltung sollte im Verlauf der Lektüre leider immer mehr abflachen, um schließlich mit dem Niveau der Texte in den Untiefen einer Trivialität zu versanden, die mir für große Teile dieser Tagebuchaufzeichnungen charakteristisch scheint. In einem abgerissenen Telegrammstil werden hier Banalitäten zum Besten gegeben, oberflächliche Beobachtungen und Gedanken schriftlich festgehalten, die keine oder nur selten Tiefe haben. Ja, dem Gros der Texte fehlt es schlicht und einfach an Gehalt.

Als ein von sich selbst eingenommener Wichtigtuer hechelt Oscar Schmitz von einem Salon zum anderen, um zu sehen und um gesehen zu werden, kein Treffpunkt der sogenannten Boheme, an dem er nicht seine Visitenkarte abgegeben hätte. Das liest sich in seinen Tagebüchern dann folgendermaßen: "Mittags Besuch von Hentschel. Nachmittags Spazierfahrt durch den herrlichen Frühling. Zu Kranzler. Dort Falckenberg mit Dr. Krähe. Wir essen zusammen im Haus Trarbach. Dann fahre ich allein zu Dora Hitz." Oder: "Spät aufgestanden. Bei Salvini in der Passage mäßig gegessen. Nachmittags herumgeirrt. Abends wieder Grasso, La Morte Civile. Wieder vorzüglich. Einen Moment im Eden, und dann San Pietro in Orto." Und in diesem Stil geht das weiter, kurzatmig, gehetzt und oft wie am Fließband. Wir begleiten einen gelangweilten Müßiggänger beim vergeblichen Bemühen, seine innere Leere auszufüllen. Ein bezeichnendes Zitat von Schmitz: "Heute früh plötzlich Absage von Daneel, wo ich zum Essen geladen war. Der ganze leere Sonntag vor mir." Und so wie er sich selbst langweilt, so langweilt er mit seinen Tagebuchaufzeichnungen auch seine Leser. Wobei ich im Gegensatz zum Herausgeber nicht glauben mag, dass diese Tagebücher von Schmitz zur Veröffentlichung angedacht waren. Zu dürftig und substanzlos ist nämlich das, was er dort aufgezeichnet hat.

Etwas blasiert Weltmännisches, der Dünkel einer vermeintlichen geistigen Überlegenheit, der einer im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehenden und noch zusätzlich durch pekuniäres Vermögen privilegierten Bildungsclique häufig zu eigen scheint, spricht aus den Zeilen der Schmitz-Tagebücher. Von gehaltvoller Tiefe kann da keine Rede sein, auch wenn Rezensenten vieler überregionaler Medien dies anders sehen mögen. Und wenn beispielsweise im Deutschlandfunk kommentiert wird, diese Tagebücher würden "wie wenige zuvor tief in den Triebhaushalt der Wilhelminischen Zeit blicken lassen", so scheint mir auch diese Behauptung maßlos übertrieben. Lediglich einige belanglose, oberflächliche Betrachtungen über Sex und Erotik würzen bisweilen den kurzatmigen und im gleichen Zug doch langweiligen Text, nach Delikatessen feinsinniger Art wird der Leser vergeblich Ausschau halten. Was man erhält, ist ein Einblick in jene kaputte, degenerierte Welt der Boheme, der Oscar A. H. Schmitz zwar angehörte, der er aber gleichzeitig auch wieder zu entkommen suchte. Unter anderem versuchte er dies durch seine häufigen Reisen zu erreichen, andere Bohemiens nehmen lieber - wenn dem Illusionsballon der eigenen Wichtigkeit in einem schmerzhaften Prozess geistiger Blähungen langsam die Luft ausgeht - ihre Zuflucht zu Drogen, Promiskuität und Alkohol oder gehen in den Freitod. (Vier Selbstmorde Oskar Schmitz nahestehender Frauen innerhalb von drei Jahren! Siehe Tagebücher Band 2, S. 266).

Sind sie nun lediglich von reichen Eltern oder Kunstmäzenen protegierte soziale Parasiten, diese blasierten, aufgeblasenen Ausgeburten der Boheme? Oder sind es die Individualisten und Exzentriker, derer unsere Gesellschaft bedarf, um nicht in trister Einförmigkeit zu erstarren? Ich will es nicht beurteilen. Heutzutage hat ja die sogenannte Promiszene die Boheme abgelöst, und statt der Salons haben diese Leute nun das Fernsehen, wo sie von Talkshow zu Talkshow herumgereicht werden, um ihre Nichtigkeiten auszutauschen, vom Maskenbildner, der ihnen zum verlogenen Kern noch eine verlogene Schale verpasst, fein herausgeputzt für den Zirkus öffentlicher Aufmerksamkeit ... und man fragt sich: Sind ihre "Männchen machenden" Pudel oder andere Schoßhündchen nun Karikaturen ihrer Herrschaften oder ist es eher umgekehrt?

Zurück zu unserem Thema, den Schmitz-Tagebüchern! Diese werden ab etwa 1909 zunehmend interessanter, denn da verlässt der Autor die Münchner und Berliner Boheme, begibt sich auf Reisen und schildert seine in der Fremde gewonnenen Eindrücke. Noch interessanter und aufschlussreicher aber sind einige Reiseessays ab Seite 295 der mir vorliegenden Ausgabe, die der Herausgeber den Tagebucheintragungen beigefügt hat. In diesen Essays polierte Oscar Schmitz seine flüchtig in Tagebuchform festgehaltenen Erlebnisse und Eindrücke noch einmal literarisch auf. Hier zeigt sich Schmitz dann tatsächlich als subtiler Beobachter und auch als ein Autor, der wohl zu Unrecht der Vergessenheit anheim gefallen ist. Originaltext Oscar Schmitz: "... der majestätische Gang der Kamele, in deren Gesichtern höchste Dummheit und tiefste Philosophie eine menschlich berührende Mischung eingegangen sind."

Durchaus lesenswert sind auch die ausführlichen Anmerkungen sowie das Nachwort des Herausgebers. Hier bekommen all die Namen, die Oscar Schmitz in seinen Tagebüchern oft nur beiläufig erwähnt, dann auch eine Identität, sie erhalten sozusagen ein Gesicht für den Leser. Und diese Anmerkungen erweisen sich wahrhaftig als eine regelrechte Fundgrube, als ein "Who’s who der intellektuellen Welt" zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, wie es im Prospekt des Aufbau-Verlages formuliert ist. Dass sich Oscar A. H. Schmitz in dieser Welt der Boheme nicht uneingeschränkt wohlgefühlt hat, belegt ein von ihm verfasster Roman, in welchem er die Verirrungen und die Nutzlosigkeit eben jener Boheme anprangert.

Bleibt mir noch festzuhalten, dass der Herausgeber Wolfgang Martynkewicz eine beispielhafte editorische Arbeit geleistet hat, die einer größeren Sache würdig gewesen wäre. Vielleicht kann die Herausgabe dieser Tagebücher aber immerhin dazu beitragen, dass das Werk des Autors Oscar A. H. Schmitz der Vergessenheit entrissen wird, was auf jeden Fall zu wünschen wäre. Dieser Autor ist es sicherlich wert, neu entdeckt zu werden, seine Tagebücher sind es meiner Ansicht nach weniger. Diese letzte Feststellung möchte ich aber zunächst einmal ausschließlich auf den mir vorliegenden zweiten Band bezogen wissen.

(Werner Fletcher; 05/2007)


Oscar A.H. Schmitz: "Ein Dandy auf Reisen. Tagebücher 1907-1912"
Herausgegeben von Wolfgang Martynkewicz.
Aufbau-Verlag, 2007. 576 Seiten.
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