Eric-Emmanuel Schmitt: "Das Kind von Noah"


Joseph Bernstein ist ein Kind jüdischer Eltern, das im Brüssel der 1940er Jahre aufwächst. Nachdem die Nationalsozialisten Belgien besetzt hatten, wurde auch hier für die Juden das Leben schwieriger und schließlich gefährlich. Als die ersten Verhaftungswellen beginnen, setzen seine Eltern den siebenjährigen Joseph bei einer adligen Familie ab, die ihnen freundschaftlich verbunden ist. Von diesem Zeitpunkt an lebt der Junge mit einem gefälschten Pass als Neffe dieser Familie weiter, die ganz klar christlich orientiert ist. Von hier aus kommt er schließlich in eine katholische Schule, wo er - und einige andere jüdische Jungen - von Pater Bims unter "richtigen" katholischen Knaben versteckt werden.

Drei Jahre lang lebt Joseph in dieser Schule und lernt den katholischen Glauben kennen - und den Vorteil, einer Religion zugerechnet zu werden, die nicht verfolgt wird. Aber Pater Bims sieht sich selbst in der Nachfolge Noahs, und in dieser Zeit sieht er die Juden quasi als die von der Sintflut bedrohte "Tierart", weswegen er der jüdischen Kultur in der Krypta einer alten Kapelle eine Heimstatt gibt und mit Joseph zusammen dort sowohl den katholischen wie auch den jüdischen Glauben lebt.

Dies ist keine Auseinadersetzung der beiden Glaubensrichtungen miteinander, sondern ein Plädoyer, Gott in der Sprache anzusprechen, die einem jeweils am genehmsten ist. Damit gehört dieser Roman genau wie "Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran" und "Oskar und die Dame in Rosa" zu Schmitts "Trilogie des Unsichtbaren", in der der Glaube an sich eine größere Rolle spielt als die jeweilige Glaubensrichtung, und in der gerade der Atheist vielleicht der beste Vermittler zwischen verschiedenen Lagern sein kann.

Sprachlich sehr schön und trotz der Schrecken der Shoah, die auch hier eine Rolle spielen, ein Buch, das einem Hoffnung in die Menschheit an sich gibt.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 01/2005)


Eric-Emmanuel Schmitt: "Das Kind von Noah"
Aus dem Französischen von Inés Koebel.
Ammann, 2004. 139 Seiten.
ISBN 3250600768.
ca. EUR 17,40.
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Leseprobe:

Als ich zehn war, gehörte ich zu einer Gruppe von Kindern, die man Sonntag für Sonntag der Öffentlichkeit vorführte.
Man bot uns nicht zum Kauf an, man bat uns, auf einem Podium auf und ab zu gehen, um einen Abnehmer für uns zu finden. Im Publikum konnten sowohl unsere wahren, endlich aus dem Krieg zurückgekehrten Eltern sein als auch adoptionswillige Paare.
Sonntag für Sonntag stieg ich auf eine Bretterbühne in der Hoffnung, daß jemand mich erkannte oder aber haben wollte.
Sonntag für Sonntag hatte ich in dem überdachten Innenhof der Gelben Villa genau zehn Schritte, um mich zu zeigen, zehn Schritte, um wieder zu einer Familie zu gehören, zehn Schritte, um keine Waise mehr zu sein. Die ersten Meter fielen mir immer leicht, die Ungeduld trieb mich geradezu auf die Bretter, aber auf halber Strecke bekam ich plötzlich weiche Knie und schaffte das letzte Stück nur mit Mühe. Dann stand ich da wie vor einem Sprung ins Leere, vor einer Stille, tiefer als ein Abgrund. Unter diesen zahllosen Köpfen, Hüten, Glatzen und Haarknoten mußte sich doch ein Mund auftun und "Mein Sohn!" rufen oder "Das ist er! Er und kein andrer! Den adoptier ich!" Mit jeder Faser meines Körpers diesem Ruf entgegenfiebernd, der mich der Verlassenheit entriß, vergewisserte ich mich, daß ich auch anständig aussah.
Ich war im Morgengrauen aufgestanden, vom Schlafsaal direkt in die kalten Waschräume gehüpft, hatte mich mit einer steinharten grünen Seife geschrubbt, die kaum weich zu kriegen war und nur sparsam schäumte; war mir mit dem Kamm an die zwanzigmal durchs Haar gefahren, bis ich es endlich gebändigt hatte; und da mein blauer Sonntagsanzug aus grobem Stoff an den Schultern zu eng und an den Hand- und Fußgelenken zu kurz geworden war, hatte ich mich so klein wie möglich gemacht, damit man nicht merkte, daß er mir längst nicht mehr paßte.
Während man da oben steht und wartet, weiß man nicht, ob es eine Freude oder eine Qual ist; man bereitet sich auf einen Sprung vor und hat keine Ahnung, ob man sich dabei den Hals bricht oder Beifall erntet.
Sicher, meine Schuhe sahen nicht gerade berückend aus. Zwei Stück kotzfarbene Pappe. Mehr Löcher als Material. Mit Bast umwickelt. Ein windiges Modell, nach allen Seiten, der Kälte und selbst meinen Zehen hin offen. Plumpe Treter, die erst wasserdicht waren, wenn mehrere Schichten Schlamm sie verkrustet hatten. Beim Putzen lief ich Gefahr, daß sie sich in Nichts auflösten. Das einzige, was meine Schuhe als solche kenntlich machte, war die Tatsache, daß ich sie an den Füßen trug. Hätte ich sie in der Hand gehalten, hätte man mir gewiß zuvorkommend die nächste Mülltonne gezeigt. Vielleicht hätte ich ja die Holzschuhe anbehalten sollen, die ich die Woche über trug. Aber die Besucher der Gelben Villa konnten das von da unten aus gar nicht sehen. Und wenn schon! An den Schuhen durfte es kaum liegen. Schließlich hatte der rote Léo seine Eltern wiedergefunden, als er sich barfuß präsentierte.
"Du kannst jetzt zurück in den Speisesaal, Joseph."
Sonntag für Sonntag machte dieser Satz meine Hoffnung zunichte. Mit anderen Worten, Pater Bims gab mir zu verstehen, daß es auch diesmal wieder nichts war und ich die Bühne räumen mußte.
Kehrtmachen also. Zehn Schritte, um zu verschwinden. Zehn Schritte, und wieder war man allein mit seinem Schmerz. Zehn Schritte, und wieder war man Waise. Am anderen Ende des Podiums trat schon das nächste Kind unruhig auf der Stelle. Es drückte mir das Herz ab.
"Glauben Sie, ich schaff es irgendwann, mon père?"
"Was, mein Junge?"
"Eltern zu finden."
"Eltern! Ich hoffe, deine richtigen Eltern sind der Gefahr entronnen und tauchen bald hier auf."
Alles Zur-Schau-Stellen war bisher erfolglos geblieben, und ich fühlte mich zusehends schuldig. Als könnte ich etwas dafür, daß sie nicht kamen. Nicht wiederkamen. Aber war das überhaupt ihre Schuld? Lebten sie noch?
Ich war zehn Jahre alt. Drei Jahre zuvor hatten mich meine Eltern Fremden anvertraut.
Seit einigen Wochen war der Krieg vorbei. Und mit ihm die Zeit der Hoffnung und der Illusionen. Für uns, die versteckten Kinder, bedeutete das, zurück in die Wirklichkeit zu müssen, um per Holzhammermethode herauszufinden, ob wir noch immer eine Familie hatten oder mutterseelenallein zurückgeblieben waren ...

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