Jean-Claude Schmitt: "Die Bekehrung Hermanns des Juden "

Autobiografie, Geschichte und Fiktion


Eine ferne Zeit zwischen Realität und Fiktion

Prof. Dr. Jean-Claude Schmitt, 1946 im französischen Colmar geboren, ist seit 1983 Direktor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales und Leiter des Fachbereichs "Anthropologie historique de l'Occident médiéval". Er ist Autor zahlreicher Werke zur Kultur und Gesellschaft des Mittelalters.

Das Buch wird ergänzt durch die deutsche Übersetzung des Opusculum in der 1963 von Gerlinde Niemeyer veröffentlichten Fassung und einen vorbildlichen Anhang bestehend aus Anmerkungen, einer umfassenden Bibliografie und einem Register.

Es existiert ein lateinisches Dokument des Titels "Hermannus quondam Judaeus. Opusculum de conversione sua", also das kleine Werk über die Konversion Hermanns, des ehemaligen Juden. Es schildert die Geschichte des Juden Judas, der um 1107 in Köln geboren wurde. In einem am Ende des Berichts gedeuteten Traum wird er auf den rechten Weg aufmerksam gemacht. Es folgen Jahre der Wanderschaft und Beschäftigung mit dem Christentum, die in einem Streitgespräch mit dem berühmten Rupert von Deutz gipfeln. Am Ende wird Judas getauft und tritt als Hermann in den Orden der Prämonstratenser in Cappenberg ein, wo er auch die Priesterweihe erhält. Das Opusculum ist der Form nach autobiografisch und soll von Hermann selbst verfasst worden sein.

Der Untertitel "Autobiografie, Geschichte und Fiktion" deutet darauf hin, dass daran Zweifel möglich sind und Hermann selbst möglicherweise nur eine rhetorische Figur einer zeitgenössischen oder zeitgemäßen Metapher ist. Nachfolgend untersucht Jean-Claude Schmitt die Argumente für und wider die Authentizität des Opusculum und ihres Autors.

Ein Traumkapitel untersucht die Bedeutung der Träume in der christlichen und jüdischen literarischen Tradition, denn Träume galten als potenzielle Botschaften göttlichen (oder teuflischen) Ursprungs. Insbesondere Rupert von Deutz, ein eifriger Verfasser theologischer Schriften, und seinen Träumen wird viel Platz eingeräumt. Seine Träume sind oft auch von deutlichen sexuellen Momenten durchzogen, die aber in eine innige Gottesliebe umgedeutet werden. Freud hätte seine Freude daran gehabt. Auch Hildegard von Bingen sah innere Bilder, doch nie träumte sie, wie sie betonte, denn sie war stets wach und hatte dabei druckreife Visionen. Rupert von Deutz konnte es sich dank seiner Stellung erlauben zu träumen, bei Hildegard von Bingen oder Elisabeth von Schönau hätten solche Träume als teuflische fantasmata gedeutet werden können, und das konnte für Frauen sehr gefährlich werden ...

Im letzten Kapitel werden einige Bekehrungen des Christentums geschildert, so die des Norbert von Xanten, Gründer des Prämonstratenser-Ordens, in dessen erster deutscher Gründung, Kloster Capppenberg, das Opusculum höchstwahrscheinlich entstanden war. Dabei handelt es sich nicht nur um Konversionen aus einer anderen Religion heraus wie bei Saulus-Paulus, sondern auch um Korrekturen falscher Lebenswandel, wofür Augustinus als Beispiel dienen mag. Es folgen Berichte des Guibert von Nogent über Bekehrungen, Gottfried und Otto von Cappenberg, deren Schloss zur Abtei wird.

Fazit

Das vorliegende Buch ermöglicht einen spannenden Einblick in das religiöse Treiben des Mittelalters. Allerdings stellt sich die Frage, wer so etwas liest. Natürlich sind da zuerst die Fachleute zu nennen: die Theologen und Mediävisten. Doch man kann das Buch auch mit Gewinn lesen, wenn man von Theologie und Mediävistik weit entfernt ist, denn das Mittelalter war notwendige Voraussetzung von Renaissance und Aufklärung und beschreibt somit unsere kulturellen Wurzeln. Und ob Judas existierte und ob er zum Christentum konvertierte, ist in der Tat unbedeutend, wie der Autor betont. Dass es so ähnlich hätte stattfinden können, war für die damalige Gesellschaft entscheidend.

Als der Rezensent diese Aussage erstmals las, war er einigermaßen empört, denn es existiert in unserer Gesellschaft - zumindest in weiten Teilen - ein wesentlicher Unterschied zwischen Realität und Fiktion, der immerhin mühsam erkämpft werden musste. Und das finstere Mittelalter beansprucht scheinbar eigene Regeln. Doch wenn man unsere heutige am Wahrheitsbegriff so einfach messbare Zeit etwas genauer betrachtet, so stellt man mit Erstaunen fest, dass wir ständig von "zweckdienlichen" Erfindungen umgeben sind. Nahezu alle politischen Skandale der letzten Zeit legten dieses Muster frei. Und die omnipräsente Werbeindustrie scheint sogar auf diesem Prinzip aufgebaut zu sein. Und ist es nicht gerade ein Wesenszug des menschlichen Episodengedächtnissen, die Erinnerung gelegentlich etwas zu frisieren? So hat dieses Buch den Rezensenten unvermittelt dazu veranlasst, unsere heutige praktische Trennschärfe zwischen treu und wahr zu bezweifeln. Dennoch sollten selbst im Mittelalter gewisse Grenzen des guten Geschmacks gelten, die spätestens bei der konstantinischen Schenkung deutlich überschritten wurden, selbst wenn es so hätte gewesen sein können und wenn es der Sache (des Katholizismus) diente.

Doch auf Seite 137 gerät der Autor unvermittelt ins Straucheln und verliert vorübergehend die wissenschaftliche Distanz, indem er schreibt: "Am 25. August 1128 werden die Abtei von Deutz und die umliegende Ortschaft ein Opfer der Flammen. Aber diese Katastrophe, die sich dank göttlichem Schutz glücklicherweise in Grenzen hielt, [...]". Wenn man einen aktiven Gott in diese Geschichte einbaut, erübrigt sich jede wissenschaftliche, also nicht-theologische Deutung des Gegenstands dieses Buches. So entdeckt der aufmerksame Leser fortan weitere Attribute, die nicht in das Vokabular eines Historikers passen, denn Bernhard von Clairvaux als den Heiligen Bernhard zu bezeichnen ist katholisch und ahistorisch und spottet seinen geschätzten zwei Millionen Kreuzzugsopfern.

Für wen das Mittelalter noch nicht vollends greifbar ist, wer nach all der makrohistorischen Theorie der Geschichtsbücher einen intensiven Blick auf eine Art Befindlichkeit des frühen 12. Jahrhunderts im Raum Köln werfen möchte, ist mit diesem Buch gut bedient. Aber es hätte sich der interessierte Laie auch einen etwas weiteren Fokus gewünscht. Zum Beispiel der Wandel des heutigen Begriffs der Wahrheit aus der Bedeutung der Treue heraus hätte die Gelegenheit geboten, transkulturell und interkulturell untersucht zu werden: War auch schon vor dem christlichen Mittelalter die Wahrheit der Treue gleichgesetzt, oder ist dies das Ergebnis explizit scholastischer Manipulation? Was hielt Aristoteles für wahr? Auch wenn man die Antwort zu wissen glaubt, hätte man es gerne in ein paar kompetenten Absätzen gelesen.

Das vorliegende Werk ist im Prinzip dazu geeignet, ein Stück hochmittelalterlicher Kulturgeschichte zu isolieren und zu exemplifizieren. Stimmig geschrieben und übersetzt, präsentiert es sich auf dem gewohnt sehr hohen Niveau in Sprache und Gestaltung, aber es lässt doch ein wenig Spritzigkeit missen.

(Klaus Prinz; 03/2006)


Jean-Claude Schmitt: "Die Bekehrung Hermanns des Juden"
Übersetzt von Ursula Blank-Sangmeister.
Reclam Verlag, 2006. 398 Seiten.
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