Eric-Emmanuel Schmitt: "Die Schule der Egoisten"
Was als Forschungsreise beginnt, endet als turbulente Zeitreise an einen Ort, wo das Wirkliche und das Wahre weniger gemeinsam haben, als man denkt ...
Schmitts 1994 erschienenes
Romandebüt
Dieses nun auch auf Deutsch erhältliche Werk des
belgischen Romanciers und Dramatikers Eric-Emmanuel Schmitt setzt sich mit
seiner ersten großen Liebe auseinander, der Philosophie, wobei speziell Diderot,
über den der Autor seine Doktorarbeit geschrieben hat, eine nicht ganz
unwichtige Rolle spielt.
In der Bibliothèque
Nationale stößt ein Philosophiedoktorand zufällig auf die Erwähnung
eines Philosophen des 18. Jahrhunderts namens Gaspard Languenhaert, der eine
Extremform der Welt- und Seinswahrnehmung gelehrt hat: Dass nämlich die gesamte
Welt nur in seinem Kopf existiert. Einiges an diesen Ideen weckt das Interesse
des jungen Doktoranden, der beginnt, der ihm bis dahin unbekannten Figur der
Philosophiegeschichte nachzuspüren.
Dabei stellt sich prompt heraus, dass offensichtlich versucht wurde, jeden weiteren
Hinweis auf den Philosophen Languenhaert zu vertuschen, seien es amtliche Eintragungen,
Grabsteine oder auch Bilder in Buchgalerien. Es beginnt eine "Jagd" nach dem
obskuren Philosophen.
Über vielerlei Umwege findet der Erzähler immer mehr über
die genannte Person und ihre ungewöhnliche Biografie heraus, wobei sich bei den
Enthüllungen bald eine gewisse Regelmäßigkeit offenbart, die für den Suchenden
immer neue Fragen aufwirft.
Dieses Buch ist in seiner Form sicherlich
auch eine Auseinandersetzung mit
Diderot und der
Philosophie an sich, die mehr und mehr das Individuum und immer weniger dessen
Gesellschaftsbezug in den Mittelpunkt gestellt hat.
"Mit anderen
Worten, ich fand bei Diderot bestätigt, dass sich die verrückte Geschichte von
Languenhaert und seiner Sekte tatsächlich ereignet hatte. Daher beschloss ich
zum ersten Mal, Urlaub vom Forschen zu nehmen. Zum Teufel mit meiner Arbeit, ich
pfiff auf meine Dissertation, ich wollte mehr über Languenhaert herausfinden und
entschied, mich eingehend mit ihm zu beschäftigen. Und zwar gleich morgen
früh.
Darüber musste ich eingeschlafen sein."
Dies hat zur Folge, dass
gerade die ständige Ich-Bezogenheit von Menschen in unserer Zeit zu den wohl
ungewöhnlichsten Pathologien im Bereich der Identität führen muss.
Nicht
so schön zu lesen wie "Monsieur
Ibrahim und die Blumen des Koran" oder "Oskar und die Dame in Rosa" ist
dieses Büchlein meines Erachtens vielleicht eher etwas für den
Philosophennachttisch.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 12/2004)
Eric-Emmanuel Schmitt: "Die Schule der
Egoisten"
Aus dem Französischen von Inés
Koebel.
Ammann, 2004. 176 Seiten.
ISBN 3-2506-0061-X.
ca. EUR 17,40.
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Ein weiteres Buch des
Autors:
"Das Kind von Noah"
Joseph ist
sieben und Brüssel ist unter deutscher Besatzung, als Herr und Frau Bernstein
ihren Sohn bei den de Sullys abgeben. Ob er sie jemals wiedersehen wird, ist
ungewiss. Mit einem gefälschten Pass findet Joseph Unterschlupf in der Gelben
Villa von Pater Bims, wo er die Schrecken des Krieges übersteht. Vom Pater
erfährt er, dass er zwar nicht adlig ist, aber einem auserwählten Volk, dem der
Juden, angehört. Er sei ein Kind von Noah: ein jüdischer Junge, der dazu
beitragen soll, dass sein Glaube gegen alle Bedrohungen seinen Platz in der Welt
behauptet. (Ammann)
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zur
Rezension ...
Leseprobe:
Es war
an einem Dezemberabend in der Bibliothèque Nationale. Ich hatte den ganzen Tag
über registriert, notiert und angemerkt, Sachen entdeckt und ausgewertet,
diskutiert und nachgedacht, und nun hatte ich genug, mir brannten die Augen, ich
legte den Federhalter aus der Hand, die mir schwer geworden war, und schob
meinen Stuhl zurück.
Um mich herum über Schreibtische gebeugte Körper, im
Lampenlicht glänzende Schädel und entlang der Wände Bücher, geschlossen, stumm,
unergründlich. Eine klebrige, düstere Atmosphäre ließ den großen Lesesaal in
Grabesstille erstarren. Nichts rührte sich. In der Luft hing jener typische
Geruch von reinem Staub, wie man ihn Morgen für Morgen aufwirbelt.
"Ich
träume ... ich lebe nicht mehr ... Ich bin gefangen in einer Scheinwelt
..."
Zum ersten Mal verspürte ich Hass auf meine Arbeit. Ich betrachtete die
Papierstapel vor mir wie etwas Fernes, Fremdes, diese Materialien, über die mich
seit Jahren die mühevolle Arbeit eines Wissenschaftlers beugte, meine obskuren
Forschungen auf dem Gebiet der mittelalterlichen Linguistik, die niemanden
interessierten, nicht einmal mich.
Oben, an den dunklen Glasfenstern, huschte
ein Schatten entlang.
Ich sah mich prüfend um.
Die Schädel dachten. Hätten
sich ihre Augen nicht ab und zu hinter ihren hängenden Lidern und ihren
Hornbrillen bewegt, hätte man bezweifeln können, dass sie überhaupt noch lebten.
Sie lasen; wie eine reglose Eidechse ein Insekt verdaut, nahmen sie Wissen in
sich auf, ließen sich durchdringen vom Gedächtnis der Welt, gebannt vom
Wesentlichen. Wie langweilig ist doch die Ewigkeit, wenn sie die Zeit durchquert
...
Ich stand auf.
Ich musterte die Schädel. Ha, wenn sie wüssten!
...
Mit einem hämischen Grinsen begab ich mich in das Kellergeschoss, wo die
Kataloge untergebracht waren.
Ich hatte soeben beschlossen, gegen ein
ungeschriebenes Gesetz zu verstoßen: Ich wollte etwas Unnützes lesen. Einfach
so. Ohne besonderen Grund. Mich über die Regeln des Wissenschaftlers
hinwegsetzen, die Zeit vergeuden, lesen, nur zum Spaß ... Ein Unding!
Ich
schloss die Augen, tastete mich durch die Gänge zwischen den Katalogen, öffnete
aufs Geratewohl irgendeine Schublade und fischte blindlings eine Karteikarte
heraus. Ich notierte die Signatur, sonst nichts, und gab meine Bestellung
auf.
Ich kehrte wieder zu meinem Platz in der Schädelstätte des großen
Lesesaals zurück und grinste während der zehn Minuten, die ich warten musste,
vergnügt in mich hinein.
Schließlich kam der Saaldiener und brachte mir einen
alten, in rotes Leder gebundenen Folianten mit violettem Schnitt. Ein
Dictionnaire patriotique, das Werk eines gewissen Fustel des Houillères,
erschienen 1798, als Quartband, bei Nicéphore Salvin, Buchhändler.
Großartig!
Ein Buch, von dem ich noch nie gehört hatte.
Mich weiter dem Zufall
überlassend, schlug ich das Buch auf, wo es von selbst aufging, und fand auf
Seite 96 oben folgenden Eintrag:
EGOISMUS (Philosophischer
Begriff):
Als Egoisten bezeichnet man einen Menschen, der glaubt, er allein
existiere auf der Welt und alles andere sei nur Traum.
Zur großen Schande des menschlichen Geistes lebte in Paris zu Beginn dieses
Jahrhunderts ein Mann, der seinen Namen mit dieser absurden Vorstellung verband,
ein gewisser Gaspard Languenhaert, Bürger der Republik Holland. Es heißt, er
war so wohlgestalt und wortgewandt, dass allein die Frauenzimmer seinen Erfolg
in Paris gewährleistet hätten, doch war seine wahre Mätresse die Philosophie,
und zu Ruhme gelangen wollte er durch eine Doktrin. Der englischen Philosophie
ausreichend kundig, um Probleme erfassen, jedoch nicht ausreichend genug, um
sie auch lösen zu können, gab er einige annehmbare Bemerkungen von sich, aus
denen er unerhörte Schlüsse zog. Und so sagte er: Ob ich mich nun bis zum Himmel
emporschwinge oder in die allerunterirdischsten Gegenden hinabsteige, so gehe
ich doch nie aus mir selbst heraus, und nie nehme ich etwas anderes wahr als
meinen eignen Gedanken. Also existiert die Welt nicht an sich, sondern in mir.
Also ist das Leben nur mein
Traum. Also
bin allein ich mir die ganze Wirklichkeit ...
Nach Aussage seiner
Zeitgenossen ging der junge Mann von dem legitimen Zweifel hinsichtlich der
Grenzen unseres Wissens munter zu der Behauptung über, die Dinge seien einzig in
ihm, durch ihn und für ihn. Und so zog er denn, auf der Suche nach einer
zahlreichen Zuhörerschaft, von Salon zu Salon, um zu verkünden, er allein sei
auf der Welt, wobei er nicht davon abließ, seinen Gesprächspartnern zu erklären,
dass sie nicht existierten, und mit dem Glas in der Hand zu behaupten, die
Materie sei eine sinnlose Annahme, er parlierte, schwadronierte, argumentierte,
den Damen und Herren der Gesellschaft immerfort auf den Fersen und ihnen
auseinandersetzend, dass allein er sich seiner Existenz sicher sei und der
Fortbestand des Universums einzig und allein von seinem Wohlwollen abhinge. Man
schätzte seine gefällige Erscheinung, amüsierte sich über seine Reden, und eine
Saison lang war Languenhaert unverzichtbares Original eines jeden Salons. Bald
aber verweigerte ihm der gesunde Menschenverstand das Ohr, das ihm die Neugierde
geliehen hatte. Sein Erfolg war von kurzer Dauer. Man verdächtigte ihn der
Aufrichtigkeit, mit anderen Worten, man hielt ihn für verrückt, und wer bei
Verstand war, wandte sich ab von ihm.
Was nun kam, bewies, dass man nicht
falsch befunden hatte, denn, aus der Welt der Salons ausgestoßen, begann er eine
Sekte der Egoisten zu gründen, um seine Wahnvorstellungen weiter kundtun zu
können. Eine Zeitlang kamen im Dorf Montmartre wöchentlich Individuen zusammen,
von denen ein jedes sich einzig und allein für das gesamte Universum hielt. Was
mögen sie einander gesagt haben? Sie haben gewiss parliert, aber haben sie
einander auch verstanden? In der Folge löste sich die Sekte der Egoisten mangels
Anhängern zwangsläufig auf; und Gaspard Languenhaert veröffentlichte eine
Abhandlung zu einer neuen Metaphysik, doch niemand wollte sie lesen oder hören,
so war er denn von neuem allein. Für ihn zweifellos kaum von
Belang!
Languenhaert fand einen raschen Tod, 1736 in Paris, dank einer
Überdosis Opium, gewiss
war er der Last der Welt auf seinen Schultern müde geworden. Er hatte keinerlei
Einfluss auf seine Zeitgenossen, und ebensowenig auf die Nachwelt.
Aber hätte
er da nicht auch im Widerspruch zu seiner Doktrin gestanden, sofern er denn
tatsächlich eine solche hatte?
Ich war begeistert.
Da hatte also eines
Tages in der Weltgeschichte ein Mann eine Theorie über etwas aufgestellt, das
ich so oft empfand, dieses Gefühl, das mich vorhin überkommen hatte ... der
ekelerregende Eindruck, dass die Anderen und die Dinge nicht existierten ... die
Vorstellung, das einzig lebende Bewusstsein zu sein, verloren inmitten einer
Traumwelt ... dieser Zweifel, dieser feuchte, dumpfe, überwältigende Zweifel,
der das Wirkliche seiner Wirklichkeit beraubt ...
Ich sah mich um. Die
Schädel hatten nichts bemerkt von meiner Freude.
Ich eilte zurück in das
Kellergeschoss. Ich musste mehr in Erfahrung bringen. Ich brauchte das Buch,
diese Abhandlung zu einer neuen Metaphysik.
Meine Müdigkeit war verflogen,
ich wühlte mich durch ganze Meter von Karteikarten, stemmte kiloschwere
Stichwortverzeichnisse, hatte wieder Augen, um die Mikrofilme zu sichten, rief
die
Bibliothekare
zur Hilfe ... ich musste alles erfahren über Gaspard Languenhaert.
Doch
nichts da! Es gab nichts. Nichts von ihm. Nichts über ihn. (...)