Christian Martin Schmidt, Wolfram Steinbeck: "Brahms/Bruckner"
Wie
von der mgg prisma-Reihe gewohnt, präsentiert sich gegenständliches Buch als bei
aller Knappheit äußerst informativ, auf hohem wissenschaftlichen Niveau - und
ungewöhnlich in der Form. In Wahrheit liegt - wie schon der Titel suggeriert,
obschon er auch die Deutung als vergleichende Studie offen lässt, trotz seines
verhältnismäßig geringen Umfangs ein Doppelband vor, dessen beiden Teile, jeweils
Johannes Brahms und Anton Bruckner gewidmet, völlig unterschiedlich und unabhängig
voneinander - sie stammen ja auch von verschiedenen Autoren - sind. Mit der Trockenheit,
der äußersten Konzentration auf das Wesentliche wird geradezu kokettiert, wie
schon der Anfang des Werkes demonstriert: Ohne Vorwort, also ohne Versuch, das
Unterfangen, die Zweiteilung oder vielmehr das Nebeneinander der beiden Teile
unter Verweis auf irgendeine übergeordnete Gemeinsamkeit zu begründen, beginnt
der Text nach einem knappen Inhaltsverzeichnis und der eine Seite füllenden Überschrift
"Johannes Brahms" auf Seite 9 folgendermaßen:
"Brahms,
Johannes
Leben
*7. Mai 1833 in Hamburg, † 3. Apr 1897 in Wien, Komponist, Pianist und Dirigent."
Es
folgen dann schon ausführliche Betrachtungen über Brahms’ Leben, sogar sehr
ausführliche, die eigentlich nichts zu wünschen übrig lassen. Auffallend bleibt
jedoch, dass wie oft in Musikerbiografien die Todeskrankheit nicht näher genannt
wird, übrigens auch nicht im Brucknerteil. Brahms' Biografe ist überhaupt mit
netto unter zwanzig Seiten relativ kurz gehalten, Bruckners (aufgrund dessen Ereignislosigkeit
doch) erstaunlich lang: ca 55 Seiten. Überraschend ist auch, dass das Brahmssche
Werkverzeichnis nur unwesentlich länger ist als das Brucknersche, dies in erster
Linie aufgrund Bruckners bedeutungsloser Frühwerke. Die nachfolgende Werkbetrachtung
fällt dafür zu Brahms’ Gunsten aus, was zwar im Hinblick auf die Vielseitigkeit
und Fülle Brahmsschen Schaffens mehr als verständlich, aber im Hinblick auf die
Qualität Wolfram Steinbecks Bruckner-Ausführungen zu bedauern ist. Christian Martin
Schmidt hatte es allerdings auch viel schwerer, überdies war vieles schon in seinem
bei reclam erschienenen Brahms-Buch zu lesen. Im zur Verfügung stehenden
Rahmen erscheint die notwendig etwas summarische Betrachtungsform bei Brahmsschen
Werken weit unergiebiger. Nicht ganz zu Unrecht erfolgte das Bülowsche Diktum
von Brahms Erster als
Beethovens
Zehnte Symphonie: Brahms‘ Formempfinden und Personalstil leitet sich einfach
von der Klassik her. Innovationen sind auf den ersten Blick nicht auszumachen,
weshalb eine oberflächliche Beschreibung nichts Sensationelles zu Tage fördert.
Um Brahms’ Genialität literarisch zu ergründen, bedürfte es schon der genauen
Werkanalyse.
Nun
soll damit keineswegs der Brahms-Teil als nicht gelungen bezeichnet werden. Egal,
ob Schmidt die Beethoven-Anklänge in der Ersten Symphonie, als bewusste Auseinandersetzung
mit dem großen Vorbild darstellt, ob er die gesellschaftlich bedingte Motivierung
des Hausmusik-Schaffens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erklärt, oder
ob er über den Konflikt in der Betrachtungsweise von Volksliedern zwischen Brahms
und wissenschaftlichen Sammlern berichtet - stets wird der Leser davon reichlich
profitieren.
Noch
beeindruckender jedoch ist der Abschnitt über Anton Bruckner ("Bruckner, (Joseph)
Anton *4.Sept 1824 in Ansfelden, † 11. Okt. 1896 in Wien, Komponist."), gerade, weil
hier auch ein enormes Nachholbedürfnis besteht. Zum einen ist man von der Bruckner-Literatur
nicht gerade gewohnt, dass sie sich allzu szientifisch geriert, um es gelinde
auszudrücken, zum zweiten ist auch bei Autoren mit einem gewissen wissenschaftlichen
Anspruch zu beobachten, dass sie ihrem selbst gestellten Anspruch auf Unparteilichkeit
nie Genüge zu leisten vermögen. Die politische Gesinnung, die Einstellung zu Kirche,
Staat und Religion schimmert immer ein wenig durch, auch jene Autoren, die Besonnenheit,
Zurückhaltung und Objektivität geradezu auf ihre Fahnen heften, bleiben davon
nicht verschont. Bruckner polarisiert.
Um
so erfreulicher sind Ausnahmen wie Wolfram Steinbeck. Seine Schilderung des Brucknerschen
Lebenslaufes und Werdeganges liest sich knapp und wirkt dennoch oder vielmehr
deshalb äußerst anschaulich, zumal die Entwicklung, die eigentlich ein unaufhaltsamer
sozialer, karrieremäßiger und künstlerischer Aufstieg war, was durch von den Biografien
traditionellen Zuschnitts breitgetretenen Lamentationen Bruckners (so berechtigt
sie im Einzelfall auf gewesen sein mögen!) ziemlich verschleiert wird.
Hervorragend
schließlich auch, wie bereits erwähnt, die Werkbetrachtung, ein Bereich, in dem
die Biografien der letzten Jahrzehnte (Hansen ausgenommen) so gut wie alles schuldig
bleiben. Dabei sind die Eigenarten Brucknerscher Formgestaltung, zumeist eine
Abweichung von der Norm bildend, relativ dankbar in der Beschreibung; entsprechend
ergiebig sind denn auch Steinbecks Ausführungen. Eine weitere Besonderheit formuliert
Steinbeck äußerst treffend folgendermaßen: "Anders als etwa bei Brahms, bei dem
für das Verständnis einer Symphonie der Rekurs auf die übrigen eher hinderlich
als förderlich wäre, ist bei Bruckner die Anlage des Einzelwerkes, des Einzelsatzes,
ja des einzelnen Formabschnittes ohne Kenntnis und Rekurs auf die übergeordnete
Formidee, wie sie sich erst im Blick auf alle Werke erschließt, nicht angemessen
zu verstehen."
Ebenso völlig zu Recht weigert sich Steinbeck, diesen Umstand
negativ zu betrachten, zumal Bruckner dieses von ihm originär erstellte Formschema
stets von neuem individuell erfüllt hat und verwirft Franz Schalks Diktum, "wonach
es nichts Primitiveres als die Brucknersche Form" gäbe, was, so Steinbeck eine
"einseitige Akzentuierung des Schematischen" sei, die "jedoch das Wesentliche
an seinem Werk: die eigentümliche Spannung zwischen Allgemeinem und Besonderem"
verkenne.
Ob
man aus den tiefschürfenden Ausführungen Steinbecks neue Erkenntnisse gewinnt,
oder trefflicher formuliert serviert bekommt, was man "immer schon" gedacht hat
– in jedem Fall werden sie für jeden Leser eine Bereicherung sein.
(Franz Lechner; 07/2002)
Christian Martin
Schmidt, Wolfram Steinbeck: "Brahms/Bruckner"
Bärenreiter Metzler, 2002.
270 Seiten.
ISBN 3-476-41045-5.
ca. EUR 14,90.
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