Ulrich Schmid: "Aschemenschen"
Ein Roman über Liebe, Gewalt und
unbewältigte Vergangenheit
Eine geschäftliche Angelegenheit hat die
Schweizerin Erla und ihren deutschen Kunden Gerd von Hongkong in die chinesische
Unruheprovinz Xinjiang geführt. Unversehens lädt Xin Yi Cheng, einer der
reichsten Unternehmer der Provinz, die beiden für einige Zeit in sein Haus ein.
In der Ruhe der abgeschiedenen Gegend lässt Erla traumatische Erlebnisse ihrer
Vergangenheit Revue passieren, die ihr weiteres Leben geprägt haben.
Zwischendurch stellt ihr der unsympathische Gerd nach, und sie stolpert über
Fotos, die Zweifel an seiner Rechtschaffenheit aufkommen lassen. Zugleich lernt
sie die Schwierigkeiten zwischen den Bevölkerungsgruppen Xinjiangs kennen, den
dort schon seit Menschengedenken ansässigen muslimischen Uiguren und den
zugewanderten Han-Chinesen, die das Sagen haben. Die Tochter ihres Gastgebers
lehrt sie eine der Legenden der Provinz, die Geschichte von den rätselhaften
Aschemenschen, die gewissermaßen Menschen in sublimierter Form sind. Und Erla,
die ihre Eindrücke in briefartigen, an ihren britischen Lebensgefährten
gerichteten Tagebuchnotizen festhält und auswertet, verliebt sich in Xin Yi
Cheng.
Plötzlich verschwindet dessen Tochter; sie ist offensichtlich
entführt worden. Gerds Verhalten gibt nun Anlass zu großem Misstrauen. Erla und
ihr Geliebter suchen verzweifelt nach dem Mädchen. Aber erst, nachdem Erla die
Aschemenschen mehrmals erschienen sind, finden sie die richtige Fährte. Als sie
das Kind entdecken, eröffnet sich unvermittelt ein weiterer Handlungsstrang, aus
der Zeit des brutalen Mengistu-Regimes in Äthiopien, und liefert alle fehlenden
Puzzleteilchen für Gerds Vergangenheit. Dann treten noch einmal die
Aschemenschen auf. Doch sie gleichen ganz und gar nicht jenen aus Erlas
Visionen.
Übersinnliches hat in diesem Roman zwar einige Bedeutung,
aber nur im übertragenen Sinne; praktisch die gesamte Handlung ist real. Der
packend verfasste, bilder- und lokalkoloritreiche Roman entführt den Leser in
eine eigenartige Welt, deren Problematik im Westen gern ignoriert wird: jene der
Uiguren, eines von den Chinesen unterdrückt, misshandelt und entrechtet und
daher in den religiösen Fanatismus und Terror gedrängten Volkes. Terror spielt
auch im Abschnitt über das totalitär-kommunistische Äthiopien eine wesentliche
Rolle. Auch wenn dieser Handlungsstrang einschließlich eines neuen, als
Ich-Erzähler eingeführten Protagonisten erst nach zwei Dritteln Roman aus Erlas
Perspektive plötzlich auftaucht, gelingt es Ulrich Schmid, den gewollten Bruch
im Verlauf der weiteren Erzählung geschickt zu kitten. Konnte der Leser mit
etwas gutem Willen bis dahin die allmählich dichter werdende Ahnung des
bevorstehenden Verhängnisses unterdrücken, so wird er nun unmittelbar und ohne
Schonung an entsetzliche, authentisch geschilderte Abgründe menschlicher
Grausamkeit und Bösartigkeit geführt. Und diese Abgründe holen auch Gerd
ein.
Das Buch wendet sich also in seiner ungeschminkten, bestürzenden
Dramatik gegen jede Art von Terror und Gewaltherrschaft, ob sie sich im Roman
nun als chinesische Variante, jene Mengistus und seiner Berater aus der
Sowjetunion und der DDR oder als religiös motivierter Terror äußern. Doch es
weist auch auf die Saat und die Keime des Bösen in uns hin und in jenen, die wir
lieben und zu kennen glauben, wie Erlas keineswegs fleckenfreie Vorgeschichte
beweist. Bitter beobachtet der Autor, dass die bedeutenden Handlanger der
Despoten zumeist ungeschoren davonkommen, während die geringeren Schurken ihre
Zeche bezahlen.
Dieser Roman unterhält den Leser auf hohem Niveau, aber
er drängt auch zum Nachdenken: Wie sehr gleicht sich doch die Sprache der
Gewalt
in allen Kulturen, während Liebe und Zuneigung sich so unterschiedlich
äußern.
(Regina Károlyi; 04/2006)
Ulrich Schmid: "Aschemenschen"
Eichborn
Berlin, 2006. 397 Seiten.
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Ulrich Schmid wurde 1954 in Zürich
geboren. Nach dem Abitur begann er ein Studium der Geschichte, englischen
Literatur und Politikwissenschaften in Zürich und Virginia/USA. 1984 promovierte
Ulrich Schmid mit seiner Dissertation zum Thema "Wahlkampffinanzierung in der
USA und in der Schweiz" zum Dr. phil.
In den folgenden drei Jahren arbeitete
Ulrich Schmid als Redakteur für die Schweizerische Depesche- Agentur (SDA) und
unternahm Reisen nach Afrika
und Afghanistan. 1987 wechselte Ulrich Schmid zur
"Neuen Züricher Zeitung". Als Auslandsredakteur bereiste er Afghanistan, die
ehemalige DDR und Sri Lanka; schrieb Kriegsreportagen und Berichte.
In der
Zeit des Umbruchs in der Sowjetunion, 1991, begann Ulrich Schmid seine Arbeit
als Korrespondent der "NZZ"
in Moskau. Seine Reportagen führten ihn nach
Tschetschenien, Georgien, Moldawien, Tadschikistan, Kasachstan und natürlich in
verschiedenste Winkel Russlands. In dieser Zeit entstand das Buch "Gnadenlose
Bruderschaften" über den Aufstieg der russischen Mafia im "NZZ"-Verlag.
1995
verließ er Russland, arbeitete bis 1999 als Korrespondent der "NZZ" in
Washington, dann in Peking und
in Prag.