Bernhard Schlink: "Die Heimkehr"
Wieder dorthin zurückkehren, wo man hergekommen
ist, wie auch immer in der Zwischenzeit verändert, verletzt, geläutert oder
gealtert, war schon in der Literatur der Antike durch Homers "Odyssee"
eine beliebte und klassisch gewordene Geschichte. Unzählige Male ist sie seither
aufgegriffen und beschrieben worden. Der große Philosoph Ernst Bloch hat gar
am Ende seines philosophischen Hauptwerks "Das Prinzip Hoffnung" das endgültige
Ankommen dort, wo man hingehört, zu einem eschatologischen Topos gemacht. Seiner
Hoffnung nach wird sich die Geschichte soweit vollenden, dass die Menschheit
dort ankommt, was jedem in die Kindheit scheint, wo aber dennoch niemand jemals
war: die Heimat.
Wie sich in der Zwischenzeit
herausgestellt hat, war wohl auf die Dialektik und die Weisheit der Geschichte
als säkularer und sozialistisch-utopischer Ersatz für die alte messianische
Hoffnung der jüdisch-christlichen Religion kein wirklicher Verlass.
Andere
Themen mit großer Sprengkraft im wörtlichen Sinne stehen auf der Agenda der
Weltgeschichte. Dennoch: das Thema der Heimat, der Rückkehr dorthin oder der
Aufbruch in eine neue Heimat bewegt die Menschen nach wie vor und wird deshalb
wohl auch noch in hundert Jahren in jeweils der Zeit angemessenen
Odyssee-Geschichten beschrieben werden.
Bernhard Schlink bedient sich in
seinem von der literarischen Welt schon lange und mit großer Spannung erwarteten
Roman des antiken Mythos und faltet ihn aus in eine deutsche
Nachkriegs-Heimkehr-Geschichte einerseits und die Suche der Hauptfigur nach dem
Vater andererseits.
Um es vorweg zu sagen: Bernhard Schlink hat einen
Roman geschrieben, der seinem berühmten Vorgänger "Der
Vorleser" in literarischer Qualität in nichts nachsteht.
Der
Ich-Erzähler Peter Debauer, in dem der Rezensent an manchen Stellen den Autor
selbst wiederzuerkennen glaubte, fährt in seiner Kindheit kurz nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges jeden Sommer zu seinen Großeltern in die Schweiz. Abends
sitzt er mit ihnen am Tisch, während sie an der Herausgabe einer Heftchenreihe
mit dem Titel "Romane zur Freude und zur guten Unterhaltung" arbeiten.
In den
50er Jahren ist Papier noch teuer, deshalb darf Peter die zusammengeklebten
Korrekturbögen der Romane als Schmierpapier mit nach Hause nehmen, mit dem
ausdrücklichen Verbot allerdings, die bedruckten Rückseiten jemals zu
lesen.
Eines Tages tut es Peter, dem man als kleines Kind schon gesagt
hatte, dass sein Vater im Krieg getötet worden sei, dann doch und stößt auf die
Geschichte einer Irrfahrt und Heimkehr eines deutschen Soldaten aus Sibirien und
der Suche nach seiner Frau. Als der Soldat endlich die Stadt, das Haus und die
Wohnung findet und seine Frau die Tür aufmacht, steht ein anderer Mann neben
ihr, und sie trägt dessen Kind auf dem Arm ...
Weiter kommt Peter
Debauer nicht, der Text bricht ab. Jahre später fällt ihm die Geschichte wieder
ein, und sie lässt ihn über viele Jahre nicht los. Die Suche nach dem wirklichen
Ende der Geschichte wird die Suche nach dem Autor, die Peter Debauer nicht nur
durch seine eigene Lebensgeschichte treibt, sondern auch durch die Verbrechen
und Tragödien des 20. Jahrhunderts. Als er entdeckt, dass der Autor des
Heftchenromans sich der "Odyssee" Homers als literarischer Vorlage bedient hat,
kommt er der Lösung immer näher. Und er begegnet sich selbst, seinem Ursprung
und der rätselhaften Geschichte seines Vaters.
Aus Peter Debauers Suche nach
dem Ende der Irrfahrt des Romansoldaten wird seine eigene Odyssee, die Suche
nach seiner Herkunft und Heimkehr und die Suche nach der Frau, die er
liebt.
Bernhard Schlink hat einen großen Roman geschrieben, der
thematisch die Nazidiktatur, die Nachkriegszeit mit ihren Verdrängungen und die
Wiederkehr bzw. Wiederauferstehung des Bösen am Anfang des neuen Jahrtausends
verknüpft. Er spannt den Bogen vom Hitlerfaschismus und seinen intellektuellen
Verfechtern bis zum 11. September 2001 und den politisch-philosophischen
Reaktionen in den USA und der westlichen Welt darauf.
Und Schlink
verbindet diese kluge Analyse des Bösen mit der Geschichte einer Liebe in einer
wunderbaren Prosa, die man so in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur
selten findet.
(Winfried Stanzick; 02/2006)
Bernhard Schlink: "Die Heimkehr"
Diogenes, 2006. 384 Seiten.
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Hörbuch:
Diogenes, 2006. 8 CDs; Laufzeit ca. 594
Minuten.
Ungekürzt gelesen von Hans Korte.
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Bernhard Schlink wurde am 6. Juli 1944
in Bielefeld geboren.
Weitere Bücher des Autors
(Auswahl):
"Vergewisserungen. Über Politik, Recht, Schreiben und
Glauben"
Ist die politische Klasse erschöpft? Hat die Wirtschaft Anspruch
auf Vertrauen? Schulden Schriftsteller politisches Engagement? Wofür braucht es
die Kirche? Wie viel Multikulturalität verträgt eine moderne Gesellschaft? Wo
sind die Grenzen des Rechts? Was ist der Preis der Gerechtigkeit? Wo ist Heimat?
Oft haben aktuelle Konflikte die Fragen provoziert: der Konflikt um Kruzifix und
Kopftuch in der Schule, die Forschung mit Stammzellen und Embryonen, die
Gefährdung der Menschenwürde im Kampf gegen Verbrechen und Terrorismus. Andere
Fragen nehmen ihren Ausgang bei literarischen und biblischen Texten: bei
Gedichten von
Heinrich
Heine, Romanen von Hans Fallada,
Imre
Kertész,
Pat
Barker und Jeffrey Eugenides, der Geschichte von Jakobs Kampf am Jabbok, dem
Bericht über Pfingsten. In der Beschäftigung mit den Fragen vergewissert sich
Bernhard Schlink seines Standorts. Weil er es zugleich als Schriftsteller und
als Jurist tut, schreibt er über Recht und Gerechtigkeit nicht abstrakt
juristisch und bleibt Erzähler, auch wenn es um Politik, Wirtschaft, Literatur
und Kirche geht. Die Texte sind erfrischend klar, anschaulich und lebendig.
(Diogenes)
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"Liebesfluchten"
Flucht in
die Liebe, Flucht vor der Liebe - vor sich selbst, dem Anderen, dem Leben, der
Geschichte. Sieben erotische, subtile, tragikomische Geschichten über Sehnsüchte
und Verwirrungen, Nähe und Einsamkeit, Verstrickung und Schuld, Lebensentwürfe
und Lebensverantwortung. (Diogenes)
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"Selbs Mord"
Ein Auftrag, der den Auftraggeber eigentlich nicht
interessieren kann. Der auch Selb im Grunde nicht interessiert und in den er
sich doch immer tiefer verstrickt. Merkwürdige Dinge ereignen sich in einer
alteingesessenen Schwetzinger Privatbank. Die Spur des
Geldes führt Selb in den
Osten, nach Cottbus, in die Niederlagen der Nachwendezeit. Ein Kriminalroman
über ein Kapitel aus der jüngsten deutsch-deutschen Vergangenheit.
(Diogenes)
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