Rainer Schmitz: "Was geschah mit Schillers Schädel?"
Alles, was Sie über Literatur nicht wissen
25
Jahre lang hat Rainer Schmitz an der nun vorliegenden
ungewöhnlichen Enzyklopädie gearbeitet. Das Register
listet 4000 Autoren und Autorinnen auf, und es existieren 1200
Einträge von A bis Zylinder. Um dieses Buch als Leser voll und
ganz zu bewältigen, würde es wohl gute ein bis zwei
Jahre dauern. Da es sich als Rezensent geziemt, immer am Ball zu sein
(um einmal den Fußballjargon in eine Besprechung
einzubeziehen), habe ich mich entschieden, mich keine ein bis zwei
Jahre zurückzuziehen, sondern die für mich
wesentlichen Beiträge zu lesen, und daraus mein Urteil
abzuleiten.
Gleich vorweg ist zu sagen, dass die Rezensenten in diesem Lexikon ihr
Fett wegkriegen. Immerhin gibt es zwei Seiten, welche sich
ausschließlich den Rezensenten und dem Rezensieren widmen.
Ich werde mich also hüten, dieses grandiose Werk unter seinem
ideellen und für die Literatur unschätzbaren Wert zu
besprechen. Ludwig Börne war der
Auffassung:
"Wer nicht schreiben kann, rezensiert." Sehr schmeichelhaft auch die
Anschauung von
Walter Benjamin "Auf das Urteil
eines Rezensenten pfeift ein gesunder Leser." Ja, und von enormer,
weltmännischer Aussagekraft zeugt: "Parasiten am Leib der
Literatur", eine geniale Darstellung des Rezensenten-Daseins von Jens
Walther. Was will da ein Rezensent schon entgegensetzen?
Dieses dickbäuchige Buch hat einen unschätzbaren
Vorteil: Es wird selbst einem Rezensenten nie langweilig, darin zu
schmökern. Manche Stichwörter wie etwa "Bestseller",
"Plagiat" oder "Privatdruck" sind sehr weiträumig dargestellt.
Dass ein Bestseller mit Literatur nichts zu tun haben muss, und dies
oft auch nicht der Fall ist, verhehlt Schmitz nicht. Gleich auf der
ersten Seite berichtet die Glosse "Abgelehnt" von zahlreichen Autoren
und Autorinnen, deren Werke auf Ablehnung stießen. Ob
Proust,
Rilke oder der später leider doch bekannt gewordene
Coelho:
Sie ernteten allesamt Absagen am laufenden Band. Eindrucksvoll ist des
Weiteren von Plagiaten die Rede, welche von Autoren stammen, die nicht
unbedingt ein Dasein abseits des Scheinwerferlichtes führten.
Hervorstechend, weil zu Berühmtheit gelangt, ist der Roman
"Roots" von Alex Haley, dessen Reiz auch der Rezensent nicht
widerstehen konnte. Und nun ist zu lesen, dass 81 Passagen
wortwörtlich von einem gewissen Harald Courlander
abgeschrieben sein sollen, der Haley im Jahre 1978 verklagte. Es kam
schließlich zu einem außergerichtlichen Vergleich
zwischen Haley und Courlander, wodurch 650.000 Dollar auf das Konto von
Courlander gelangten.
Schriftsteller sind also keine Unschuldsengel, und davon weiß
dieses Lexikon ausführlich zu berichten. Andererseits gibt es
auch solche, deren Produktivität fast schon als
legendär zu bezeichnen ist. Hervorzuheben ist etwa Lope de
Vega, der 900 Komödien geschrieben haben soll. Ob bei soviel
Humor dem Autor nicht irgendwann das Lachen im Halse stecken blieb?
Freilich darf der Begriff "Kanon" nicht fehlen, der im Endeffekt doch
nur die üblichen Verdächtigen auflistet, sodass ich
auf die Erwähnung auch nur eines einzigen Namens keinen Wert
lege, weil dadurch die Verkaufszahl der Bücher jenes Autors
vielleicht exorbitant ansteigen könnte. Ich habe ja sogar
davon gehört, dass auf das Urteil eines Rezensenten zumindest
in seltenen Fällen ein wenig Sonne fallen soll.
Überhaupt ist es amüsant, die zahlreichen
Querverbindungen dieses Lexikons zu lesen; allein dies würde
mehrere Wochen beanspruchen. Ja, mit Verlaub gesagt: Dieses epochale
Werk möge selbst zum Bestseller werden! Was gibt es da noch
viel hinzuzusetzen? Die Bandbreite ist enorm, und das Wissen, das sich
der Leser aneignen mag, exorbitant, wenn er auch nur zwei oder drei
Eintragungen pro Tag wie ein Schwamm in sich aufsaugt.
Bei so vielen Eintragungen eine konkreter beschreiben zu wollen, ist
fast schon Wahnsinn. Zumal, wenn das Zitat von Walter Benjamin
noch im Kurzzeitgedächtnis des geschätzten Lesers
verblieben ist. Dennoch wage ich es abschließend, auf Friedo
Lampe hinzuweisen. Und ich tue dies keineswegs aus Berechnung, sondern
aus freien Stücken. Unter dem Begriff "Passbild" wird kurz und
schmerzlos dargestellt, dass Friedo Lampe mit keiner einzigen seiner
Veröffentlichungen Glück beschert war. Sein Erstling Am
Rande der Nacht wurde 1933 vier Wochen nach Erscheinen
verboten. Sein zweiter Roman Septembergewitter wurde
1937 zu spät ausgeliefert und verpasste das
Weihnachtsgeschäft. Es wurden nur wenige Exemplare verkauft.
Die Druckbogen seiner Novellensammlung Von Tür zu
Tür verbrannten 1945 bei einem
Bombenangriff. Friedo
Lampes Pechsträhne fand am 2. Mai 1945 einen tragischen
Höhepunkt, den der Autor freilich nicht erlebte. Er fiel in
Kleinmachnow einer sowjetischen Militärpatrouille in die
Hände, die den Auftrag hatte, verdächtige Subjekte zu
erschießen. Ausgezehrt vom Krieg sah Lampe seinem eigenen
Passbild nicht mehr ähnlich. Er wurde auf der Stelle
hingerichtet. Umso bemerkenswerter ist es, dass sämtliche
erwähnten Werke von Friedo Lampe heute käuflich
erworben werden können. Seit 1999 existiert sogar eine kleine
Biografie.
Also, liebe Leserinnen und Leser, vertrauen Sie den Worten eines
Rezensenten und legen Sie sich dieses grandiose Lexikon zu. Es wird
Ihnen trotz der Dickbäuchigkeit niemals schwer im Magen liegen
und braucht auch nicht in wenigen Wochen ausgelesen zu werden. Die
exorbitante Wirkung dieses Werkes wird sich womöglich wie
guter Wein erst nach Jahren entfalten, und dann werden Sie ausrufen:
"Ja, ich habe es immer schon gewusst. Auch Rezensenten sind nur
Menschen und können hie und da Recht behalten."
(Al Truis-Mus; 10/2006)
Rainer
Schmitz: "Was geschah mit Schillers Schädel?"
Eichborn, 2006. 800 Seiten.
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