Rüdiger Safranski: "Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus"
(Hörbuchrezension)
Der etwas sperrige Werktitel lässt schwerblütige
Philosophie erahnen, was jedoch - zumindest für die
Hörbuchfassung (dem Vernehmen nach auch für das
papierene Buch) - keineswegs zutrifft. Safranskis Metier ist
bekanntlich die philosophische Biografie. Doch diesmal war sich der
Philosoph nur wenig treu in seinem schriftstellerischen Tun. Was
vielleicht an dem auch gar nicht so philosophischen Gegenstand liegt.
Bei Safranskis Buch handelt es sich zwar um eine dezidiert
intellektuelle Biografie des Denkers Schiller, die sich um eine
schwerpunktmäßige Interpretation philosophischer
Aspekte in Schillers dramatischem, lyrischem und essayistischem
Schaffen bemüht, doch davon abgesehen hält sich
Safranski an die Parameter einer klassischen Lebensbetrachtung.
Entgegen jeder Erwartung bleibt für den gegenständlichen Fall rein
Philosophisches also eher nebensächlich und gelangt vorzugsweise als
charakterlich prägendes Bestandsmerkmal zu Schillers Lebensvollzug und
Dichtkunst zur Darstellung. Eine exklusive und mehr oder weniger systematische
Philosophie Schillers bleibt dem Hörer somit erspart, was nicht weiter erstaunen
sollte, weil diese hätte wohl erst erfunden werden müssen, hätte Safranski es
anders gewollt. Hauptsache ist folglich die - nur allzu banale - Vita und nicht
die - weitaus aufregendere - Ideenwelt jenes Mannes, der Dichter und Denker war
und den die Nachwelt (insbesondere
Freund Goethe) aus unterschiedlichsten und teils zweifelhaften Motiven post
mortem zum Dichterfürsten adelte.
Was den mehr an Lebensdaten interessierten Leser bzw. Hörer
nun vielleicht aufatmen lässt, ist im Grunde genommen eine -
wenn auch nicht störende - Schwäche von Safranskis
Lektüre, denn was der Titel ankündigt, die Erfindung
des Deutschen Idealismus "durch" Schiller - vielleicht gar? - bzw.
vermittels seiner Person, bleibt vage, denn sollte Schiller auch ein
philosophischer Kopf gewesen sein, Philosoph war er doch keiner. Und
das im Unterschied zu Rüdiger Safranski wohlweislich, der als
prominenter Philosoph gar nicht anders kann denn philosophisch
ausdeutend Leben und Werk Schillers zu betrachten. Was sonst sollte der
Philosoph tun? Safranski - wie schon gesagt - tut es freilich nicht und
überrascht mit einem philosophischen Text, der
merkwürdig unphilosophisch bleibt.
Safranskis an Schillers Lebensmisere Maß nehmende,
lebensphilosophische Neudefinition des Idealismus als ein "Mit der
Kraft der Begeisterung länger leben, als es der
Körper erlaubt", ist nun zwar für sich genommen schon
durchaus faszinierend und einer jeden würdigenden Betrachtung
wert, allerdings scheint es doch etwas zu wagemutig gedacht, in einem
Idealismus von solch irdischer Wesensart ein geistesgeschichtliches
Vorspiel zu beispielsweise Hegels himmelwärts strebendem
geschichtsphilosophischen Entwurf vom listigen Weltgeist erkennen zu
wollen. Und mochte
besagter Hegel auch von Schiller begeistert gewesen
sein, dessen philosophischer Epigone wird er nichtsdestotrotz wohl doch
eher nicht gewesen sein. Vielleicht ließ er sich durch
Schiller ja inspirieren, aber dass er dessen philosophisches Fundament
übernommen hätte, ist auch für Safranski
allen Anscheins nach nicht belegbar. Einen nachvollziehbaren Nachweis
hierfür bleibt er jedenfalls schuldig. Weshalb anzumerken ist:
So gelungen Safranskis Schiller-Biografie im ureigentlichen Sinne auch
immer ist, als philosophischer Versuch steht sie auf unsicherem
Terrain.
Insofern liegt Safranski auch mit seinen unablässigen und in
mehrmaligen Interviews hartnäckig beibehaltenen vergleichenden
Hinweisen auf die mit Schiller vorgeblich geistesverwandte
Philosophie-Ikone
Jean-Paul
Sartre daneben, weil, wenn auch Sartre selbst ein leidlich
begabter Dramatiker und engagierter Intellektueller war, und der
Franzose deswegen als Denker und Dichter dem deutschen Klassiker
Schiller oberflächlich betrachtet durchaus (im Entferntesten)
gleichen mag, so trennt die beiden ansonsten doch gewaltig viel von
nicht leugbarer Bedeutsamkeit. Sartre war existenzialistischer Marxist
und Atheist, und er war vor allem ein begnadeter Provokateur ohne
Berührungsscheu gegenüber gesellschaftlichen
Fundamentaloppositionellen von der bekanntlich - gelinde gesagt -
militanten
Bader
Meinhof-Bande ("Rote Armee Fraktion" - "RAF") als auch
gegenüber hartgesottenen Stalinisten, einschließlich
des sowjetischen Despoten Josef Stalin in leibhaftiger Person.
Das alles war Schiller - im hochbezahlten Solde seines Fürsten
- letztlich nicht. Zu den Jakobinern ging er frühzeitig auf
Distanz. Philosophen der Freiheit waren Schiller und Sartre zwar
gleichermaßen, doch erschließt sich die Entzweiung
der Brüder im Geiste aus dem Detail. Warum also sollte
Schiller, bei Gewahrung grundlegender Differenzen, ein Jean-Paul Sartre
des 18. Jahrhunderts gewesen sein? Nur um des zündenden
Sartre-Effekts wegen?
Schillers Leben muss seiner Erlebnisarmut wegen jedem Biografen ein
Problem sein. Was gibt es schon über eine Person zu sagen, die
Zeit ihres Lebens kränklich war? Die deswegen zur
Häuslichkeit verdammt war. Andere Biografen versuchen
Schillers Liebschaften breitzutreten, welche freilich auch nicht viel
hergeben, denn der Dichter war weder ein Schönling noch
besonders galant, und so reduzierten sich die Frauenbekanntschaften auf
unaufgeregte Liebelein. Ohne viel Leidenschaft und gar tugendlich ging
es da zu. Safranski nun lässt diese Banalitäten mehr
beiseite, liefert eine gediegene Lebensbetrachtung, die nichts von
erheblicher Wichtigkeit vorenthält und konzentriert sich auf
den geistigen Kosmos des deutschen Klassikers, der allerdings - so
verbleibt der Eindruck - mehr der Poesie denn der Philosophie
verschrieben ist. Woran Safranski weder etwas ändern kann,
noch anscheinend etwas ändern will.
"Die Macht des
Geistes" stellt sich bei Schiller leitmotivisch wider
die derbe Rohheit und Vergänglichkeit der Natur.
Darüber, zu Schillers Feindseligkeit gegenüber einer
ihm feindseligen Natur, wurde schon eine Menge an
einschlägigen Texten geschrieben, und auch Safranski findet in
dieser Thematik einen philosophischen Angelpunkt für seine
Schiller-Biografie, die er jedoch - ein Kritikpunkt mehr - nicht allein
zum Idealismus spezifisch Schillerscher Provenienz erklärt,
sondern, über das einzelschicksalhafte hinausschreitend, in
fast schon sträflich intellektueller Maßlosigkeit zu
einer Art Initialzündung des "Deutschen Idealismus"
überhöht. Eine allerdings diskutable
Maßlosigkeit, da der Buchtitel Schiller ja auch nicht als
Erfinder des Idealismus ausgibt, sondern ihn lediglich zu dessen
Erfindung in Bezug setzt. Wie immer das zu verstehen ist.
Keine Frage, dass Schiller hehren Ideen anhing. Vor der (eigenen und
fremden) Wirklichkeit ekelte ihn zu sehr, als dass er nicht deren
Veredelung gewünscht hätte. Und Schiller war im 18.
Jahrhundert höchst populär; gewissermaßen
ein Nationalheiliger erwachenden deutschvölkischen
Bewusstseins. Nur macht ihn das allein schon zum Begründer des
deutschen Idealismus? Oder zum auslösenden Moment einer
entsprechend geistesgeschichtlichen Entwicklung? Und ist er deswegen
schon einem Sartre vergleichbar, der nicht Idealist sondern Materialist
war? Deutsche Literatur der Gegenwart lebt vom konstruierten Superlativ
und bedient sich aufreizender Effekte. Was zulässig scheint,
solange die gefassten Thesen dem Grunde nach vertretbar sind. Dass sie
im Einzelfall umstritten sind, entspricht der Natur der Sache.
Lässt man die am (übrigens höchst raffiniert
ausformulierten) Buchtitel festgemachte Irritation - Schiller als (wie
auch immer) erste (?) Ursache des Deutschen Idealismus - nun erst
einmal außer Acht, so erschließt sich dem Leser
über Safranskis Biografie des Weiteren ein Schiller, dessen
Ideenwelt über die Interpretationen seiner großen
Dichtungen ("Die Räuber",
"Don Carlos",
"Wallenstein", "Die
Glocke") zu seinem Publikum spricht. Und obwohl dabei manches
antiquiert anmutet, so verbleiben doch reichlich kritische
Ansätze, die zu denken geben. Schillers
Essay "Über Anmut und Würde" ist seinem Biografen
zwar leider keine eingehende Ausführung wert, umso umfassender
kommen jedoch Schillers Kulturanthropologie des spielenden Menschen
"Homo ludens" und seine deutsche Bildungsidee zur Sprache.
"Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt", weshalb er unter
anderen Religion zu Liturgie und Sexualität zu Erotik
sublimiert. Worin allemal ein entspannendes Moment des
Verzögerns liegt. Die Unmittelbarkeit der Natur wird zur
Mittelbarkeit der Kultur. Wo Notwendigkeit ist, soll Spiel werden.
Sexualität ist Triebzwang - Erotik jedoch ist das ungezwungene
Spiel der Geschlechter. Safranski zeigt, wie sich von Schillers Theorie
des spielenden Menschen eine ganze Gesellschaftstheorie ableitet, worin
für ihn letztlich sogar eine - für damalige Zeiten -
zukunftsweisende Theorie des Parlamentarismus liege. Ein deutscher
Gegenentwurf zum revolutionären Frankreich, wo derweilen die
Köpfe rollten und die Revolution ihre Kinder fraß?
Des Menschen verderbliche Neigung zu roher Gewalt sollte über
das Spiel gebändigt und zu schöpferischer Energie
veredelt werden.
Als ein von humanistischem Geiste getragenes Alternativkonzept zu dem
blutigen Wüten der französischen
Revolutionäre deutet Safranski dann auch Schillers
Bildungsidee, welche der Versuch einer "ästhetischen Erziehung
des Menschengeschlechts" ist. Die anmutige schöne Seele des
"Homo ludens" als Gegenentwurf zum funktionierenden, aber entseelten
"Homo faber", tritt als Idealgestalt aus Schillers Pädagogik
hervor, die ihn konzeptuell in eine innige geistige Verwandtschaft zu
seinem Freund Wilhelm von Humboldt stellt. Nur der durch humanistische
Bildung verfeinerte Mensch kann als Wesen selbstzweckhafter
Würde die erträumte Freiheitsidee realisieren.
Das alles mag nun allzu idealistisch, ja fast schon naiv romantisch
anmuten, doch, so Safranski, Schiller war Idealist und das Konzept des
Idealismus ist es, die Dinge kühn zu formen und nicht sich
durch die Zwangsgewalt der Dinge formen zu lassen. In dieser Auslegung
Schillers als Erzieher zur Ästhetik liegt dann wohl auch die
gesellschaftskritische Intention von Safranskis Biografie, die nicht
allein dem Bildungsbürger genügen will, sondern - im
Sinne Schillers - einen Primat des Geistes zelebriert, der gegen das,
was natürlich doch ungenügend scheint, aufbegehrt.
Der Leser bzw. Hörer ist allerdings gefordert, diese
weiterleitende Deutung zur kritischen Theorie eigenständig
vorzunehmen, zumal sich Safranski - zumindest was die
Hörbuchfassung zur Schillerbiografie betrifft -
ausdrücklicher Gegenwartsbezüge tunlichst
enthält. Dass er es letztlich jedoch in diesem Sinne
verstanden wissen will, ist indes schon in mehreren Interviews
nachlesbar gewesen.
"Es ist der Geist, der sich den Körper baut." - Dieses
für Schiller so bezeichnende Credo, will keineswegs nur als
antinaturalistischer Protest eines Kränklichen wider sein
leibliches Elend verstanden sein, sondern meint in der weitgefassten
Auslegung Safranskis ein oppositionelles Leitmotiv gegen den
geistfeindlichen Nützlichkeitswahn unserer Tage, der als
vorherrschendes (falsches) Bewusstsein allen Orts von "coolen Managern"
fabuliert, wo statt diesen schnittigen Machern doch viel mehr
ausgereifte Persönlichkeiten voll der inneren Anmut und des
Geistesadels gefragt sein sollten. Die modischen
Wertschätzungen unserer Tage muten in diesem Lichte gesehen
armselig und verkehrt an. Der Zeitgeist erschöpft sich einmal
mehr in der Trivialität eines bloß
ökonomischen Nutzenkalküls, das den Menschen auf sein
mechanisches Funktionieren reduziert und ohne Ansehen seiner wirklichen
Qualitäten ihn nach dem saldierten Mehrwert aus Input und
Output bemisst.
Sich mit dem Ekel über entwürdigende
Lebensverhältnisse innerlich nie abzufinden und der
alltagswirklichen Tristesse eine freiheitliche Alternative
entgegenzuhalten, dies und noch einiges mehr verdeutlicht uns Safranski
über seine Ausführungen zu Schillers Idealismus. Und
mag der Porträtist des deutschen Dichters in seinem
Bemühen um Aufnahme Schillers in den Olymp deutscher
Philosophiegeschichte
auch etwas zu euphorisch verfahren, so kann uns die dargebrachte
Freiheitsphilosophie doch den Furor intellektueller
Souveränität lehren, welche als gelebte Grundhaltung
dafür bürgt, niemals dem Diktat freiheitswidriger
Anmaßungen untertänigst Gefolgschaft zu leisten.
Sich versagen über die Treue zur selbstentworfenen Idee;
keiner Tyrannei
ein Knecht sein. Und mag es sich dabei um eine freundlich
lächelnde Tyrannei handeln, die vorgibt, das Beste zu wollen,
und doch nur der Geist geistloser Zustände ist. Es gewinnt
somit ein Idealismus an Gestalt, der, eigentlich ganz anders als der
abgehobene und deswegen verpönte "Deutsche Idealismus", im
Hier und Jetzt wurzelt und dem um sich selbst besorgten Lebenden ein
würdiges Leitmotiv zur Orientierung an einer selbstbestimmten
Daseinsweise abgibt.
(Harald Schulz; 04/2005)
Rüdiger
Safranski: "Friedrich
Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus"
Gesprochen
von
Rüdiger Safranski.
Randomhouse Audio, 2004. 6 Audio-CDs mit Begleitheft; Laufzeit: etwa
450 Minuten.
ISBN 3-89830-911-8.
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Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2004. 560 Seiten.
ISBN 3-446-20548-9.
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Rüdiger
Safranski wurde am 1.
Jänner 1945 in Rottweil geboren. Er studierte Germanistik,
Philosophie,
Geschichte und Kunstgeschichte. 1976 Dissertation in Germanistik und
Philosophie,
1972-77 wissenschaftlicher Assistent am Fachbereich Germanistik der
Freien
Universität Berlin, 1977-84 Dozent in der Erwachsenenbildung,
bis 1981
Mitherausgeber und Redakteur der kulturpolitischen Zeitschrift
"Berliner
Hefte", in der er Aufsätze zu Literatur, Politik und
Philosophie veröffentlichte.
Einige weitere Bücher des Autors:
"E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Fantasten"
Er galt als musikalisches Wunderkind und hatte mit einundzwanzig Jahren
bereits
zwei umfangreiche Romane in der Schublade liegen: E.T.A.
Hoffmann. Der Jurist, Komponist und Dichter brachte es zu den
größten
Erfolgen und fragte sich, auf dem Höhepunkt seines Ruhmes
angekommen, trotzdem,
ob das wirklich alles gewesen sein sollte ...
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"Nietzsche. Biografie eines Denkers"
Wie kein Zweiter hat
Nietzsche
unser Denken beeinflusst. Zu seinem 100. Todestag legte
Rüdiger Safranski etwas
vor, was es bisher noch nicht gegeben hat: eine Biografie von
Nietzsches Denken.
Eines Denkens, das existenziell ist, weil es um die Gestaltung des
eigenen
Lebens geht, das experimentell ist, weil darin die ganze Erkenntnis-
und
Moraltradition auf den Prüfstand gestellt wird, und das
exemplarisch ist in
seinen Antworten auf das Problem des Nihilismus. Ein
außergewöhnliches Buch,
das die Abenteuer dieses Denkens erzählt und zugleich die
Bilanz seiner
Wirkungen zieht.
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"Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit"
Rüdiger Safranski legte mit seinem großen Buch
über Martin Heidegger die
Biografie über den wirkungsmächtigsten (und
umstrittensten) Philosophen des
20. Jahrhunderts vor. Es ist darüber hinaus auch die Biografie
der Epoche,
selbst ein Stück Philosophie über den Zusammenhang
von Denken und Leben und
der Ausdruck eines souveränen Verhältnisses zum
philosophischen Erbe
Heideggers. Und: endlich kann man Heidegger nicht nur lesen, sondern
auch
verstehen!
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"Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?" zur Rezension ...
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