Günther Steinbach: "Schicksalstage
Europas"
Zehn Ereignisse, die den Kontinent prägten
Papst Leo III., alle römischen Würdenträger und viel Volk warteten
in der Bischofskirche St. Peter in Rom auf das Eintreffen des in Rom weilenden
Frankenkönig Karl. Dieser bekundete an diesem Weihnachtstage, dem 25. Dezember
800 an der Papstmesse samt Gefolge teilnehmen zu wollen. Während der Papst die
Messe zelebrierte, legte der König als Zeichen der Demut seine Krone auf den
Altar und kniete im Gebet und in Gedanken versunken vor dem Altar nieder. An
diesem hohen Kirchentag und der eindrucksvollen Feier in der römischen Kirche
mögen die Gedanken des Königs zurück- aber auch vorausblickend gewesen sein.
Er war zufrieden, da er in seinem bisherigen Leben alles erreicht hatte, was
er angestrebt hatte. Den Grundstock hatten schon seine Vorfahren gelegt, welchen
es gelungen war als Majordomus der Merowinger-Könige ihre Position im Herrschaftsgefüge
so aus zu bauen, dass letztlich der Papst gegenüber dem Vater von Karl, Pippin
dem Jüngeren, meinte, dass derjenige Thron und Regierung haben sollte, der tatsächlich
regiert. Daraufhin setzte Pippin den schattenhaften letzten Merowingerkönig
Childerich III. ab und machte sich selbst zum König. Gegenüber dem Papst erneuerte
Pippin darauf die so genannte "Konstantinische Schenkung", die folglich "Pippinsche
Schenkung" genannt wurde. Pippin konsolidierte sein Reich und konnte es in geordneten
Verhältnissen an seine beiden Söhne vererben. Karl wurde mit 21 Jahren zusammen
mit seinen Bruder König. Durch den frühen Tod des Bruders wurde er allerdings
schon bald Alleinherrscher des Frankenreiches.
Diese nützliche Ausgangsbasis benützte er um die Langobarden in Mittelitalien zu besiegen und die Bayern zu unterwerfen. Um seine Grenzen abzusichern unterwarf er des weiteren auch die Sachsen, die Awaren und die Hunnen, sowie mehrere andere Völkerschaften. Anfangs zog er ohne festen Sitz von Ort zu Ort, später errichtete er als Zentrum seines Reiches in Aachen eine Königsresidenz mit dem ersten großen Dom nördlich der Alpen als Gegenstück zum anderen christlichen Zentrum, in Byzanz. Im ehemaligen Gebiet des "Weströmischen Reiches" bestand nach dessen Untergang im Jahr 476 ein Machtvakuum, welches die katholische Kirche durch den Bischof von Rom als Papst nur recht und schlecht ausfüllte. Der Papst war stets Spielball des römischen Adels. Darüber hinaus litt das Papsttum, wie auch der Ruf aller anderen Kirchenfürsten, an ihrem ausschweifenden Lebenswandel, der von den Gläubigen durch alle möglichen Abgabenerfindungen finanziert werden musste. Papst Leo III. hatte allerdings besondere Schwierigkeiten. Seit Beginn seines Pontifikats hatte er mit einer starken römischen Opposition gegen seine Person zu kämpfen. Dies vor allem wegen seines unziemlichen Lebenswandels, der Geldgier und des schamlosen Handels mit kirchlichen Ämtern. Ja, er wurde sogar verhaftet und in einem Kloster festgesetzt und wäre zu dieser Zeit kaum mit dem Leben davon gekommen, hätte er nicht den Frankenkönig um Hilfe gebeten. Aber auch Leos Feinde ersuchten Karl um Hilfe und so trat dieser als Richter zwischen den Parteien auf. Es wäre bis vor kurzem undenkbar gewesen, dass ein germanischer Stammeskönig als Richter über den Papst entscheidet, was eine Rolleanmaßung gewesen wäre, welche die Päpste nicht einmal dem Kaiser von Byzanz zubilligten. Karl hatte den Papst letztlich wieder in seine Rechte eingesetzt.
Als
die Papstmesse beendet war ergreift nun Leo der III. die am Altar liegende Königskrone,
hebt sie feierlich hoch und setzt sie auf das Haupt des Königs und kniet vor ihm
nieder. Während dieses Vorganges huldigt das anwesende Volk dem soeben Gekrönten
als Kaiser der Römer. Karl selbst wurde durch die Handlung des Papstes völlig
überrascht. Dennoch, mit dieser Krönung wurde erstmals ein Nichtrömer zum Kaiser
und damit die "Römisch Deutsche Kaiserwürde" begründet, welche über 1000 Jahre
bis zum Jahr 1806 (napoleonische Kriege) währen sollte.
Obwohl Karl die Krönung
offensichtlich unangenehm berührte, so war diese seitens des Papstes wohl kalkuliert.
Er brachte auf diese Art seinen Dank für die erbrachte Hilfe zum Ausdruck, gleichzeitig
wurde aber verständlich, dass der Papst den ständigen Schutz einer funktionierenden
staatlichen Organisation künftig benötigt.
Karls Reich war die erste politische
Einheit in Europa, es deckte sich in etwa mit den Grenzen der heutigen europäischen
Gebiete, die im Jahr 1957 durch die "Römer Verträge" in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
vereinigt wurden. Karl legte in den Grundzügen den Samen eines Vereinigten Europas.
Die spontane und überraschende Krönung durch Leo III. verursachte in den folgenden Jahrhunderten noch viel Ärger. Im Laufe der Zeit leitete man davon die Oberherrschaft des Papstes gegenüber der weltlichen Herrschaft ab, es kam zur Zweischwertertheorie, dem Investiturstreit, dem Gang nach Canossa, aber auch zur Erniedrigung des Papsttums in Avignon als Spielball der französischen Könige. Die Auswüchse des lasterhaften Lebenswandels der kirchlichen Würdenträger, die Simonie sowie die Ausbeutung der Gläubigen rief Reformbewegungen hervor. Die Versuche, Reformen in der Kirche durchzusetzen, gelang weder der Bewegung von Cluny noch späteren Reformern wie Jan Hus, Calvin oder Dr. Luther, welche letztlich allesamt ihr Heil außerhalb der röm.kath.Kirche suchten und die Aufspaltung der Christenheit in konkurrierende Kirchen zementierten. Jedenfalls blieben die Reformer von der damaligen Kirchenführung ungehört und ihr Idealismus wie ihr Engagement für den Glauben ungenützt. Die Folgen verspürt die katholische Kirche noch heute. Erst nach dem Verlust des Kirchenstaates im 19. Jahrhundert durch die Einigung Italiens unter König Viktor Emanuel und letztlich die Lateranverträgen im 20. Jahrhundert wurde die Kirche von ihren weltlichen Machtverstrickungen partiell erlöst. Erst ab diesem Zeitpunkt konnte sie sich ihren religiösen Pflichten freier und ungehinderter als bisher widmen.
Die weltliche Herrschaft durch den Kaiser und die verschiedenen Adelsgeschlechter war seit Karl dem Großen für die Bevölkerung besonders drückend. Land und Leute wurden als Privateigentum der Herrschenden betrachtet und auch entsprechend behandelt bzw. ausgebeutet. Nur wenige Herrscher erkannten das unerträgliche Los der Bevölkerung und setzten fallweise bescheidene Reformen. Eine generelle Änderung des Systems des Feudalismus wurde eingeleitet durch die französische Revolution im Jahr 1789 sowie die folgenden Revolutionen im 19. Jahrhundert in den diversen europäischen Ländern. Endgültig wurde jedoch das System feudaler Herrschaft erst durch die verheerenden Kriege des 20. Jahrhunderts beseitigt. Erst als Europa in Schutt und Asche lag, sah man Licht am Ende des Tunnels. Beherzte Männer machten sich auf und begannen ein friedliches und vereinigtes Europa auf zu bauen. Man kam zur Einsicht, dass nur gemeinsames Handeln dem Wohl der Allgemeinheit dienlich ist und nur so Kriege zu meiden sind.
Jetzt, fast 1200 Jahre nach Karl dem Grossen begann der Samen, welchen er gesät hatte, zu keimen und nun wächst ein bescheidenes Bäumchen heran. Wenn auch in der heutigen Zeit einzelne machtbesessene Politiker versuchen einen Ast des Bäumchens für sich zu beanspruchen und Hegemoniegedanken wälzen, so ist doch zu hoffen, dass durch das Zusammenwirken der verbundenen Staaten dies zum Wohl der Bevölkerung Europas verhindert wird.
Die im Buch angeführten Schicksalstage sind als Meilensteine zu sehen, die am Anfang großer Entwicklungen stehen, aber nicht einzeln zu betrachten sind. Jede Begebenheit ist Folge der vorangegangenen Epoche. Das Buch zeigt die Entwicklung und die geschichtlichen Zusammenhänge ausgehend von einem Ereignis zum nachfolgenden mit allen Nebenwirkungen. Es hätte keinen Karl den Großen gegeben ohne vorausgehende Völkerwanderung, keinen Luther ohne die weltliche ausschweifende Herrschaft des Papsttums und die Korrumpierung des Klerus zur Tugendlosigkeit, und noch viel weniger einen Hitler ohne die Versailler Verträge und das unglückselige parteipolitische Taktieren deutscher Politiker der Weimarer Republik. Heute versucht mancher leider, den Aufstieg Hitlers auf bequeme Weise als sittliches Versagen der österreichischen Nation zu deuten; eine allzu einfache wie ebenso ungerechte Auslegungspraxis, die sich der Mühe begibt historische Fakten kritisch zu reflektieren.
Insgesamt ist anzumerken, dass gegenständliches Buch leicht und flüssig zu lesen ist und dem an Geschichte interessierten Leser eine erstaunliche Fülle neuer Fakten und Interpretationen liefert. Wie spannend Geschichte doch sein kann, findet sich nur der rechte Autor zur rechten Zeit.
(Hans Schulz; 15. April 2002)
Günther Steinbach: "Schicksalstage Europas"
Zehn
Ereignisse, die den Kontinent prägten
Verlag
Carl Überreuter, 2002. 228 Seiten.
ISBN 3-8000-3852-8.
ca. EUR 19,90.
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