Rafik Schami: "Reise zwischen Nacht und Morgen"
Valentin, ein sechzigjähriger Zirkusdirektor, hat kürzlich seine Frau verloren, mit seinem in letzter Zeit erfolglosen Zirkus ist er überdies schwer verschuldet, und so ist er gerade auf bestem Weg sich langsam alt zu fühlen, als plötzlich völlig unverhofft der Brief eines Kindheitsfreundes aus Arabien bei ihm eintrifft. In diesem bittet ihn sein zu einem reichen Architekten gewordener Freund, gegen mehr als großzügige Bezahlung mit seinem ganzen Zirkus zu ihm (in die arabische Hauptstadt Ulania) zu reisen, dort Gratisaufführungen zu geben und bis zu des Briefeschreibers Tod, womit laut Ärzten spätestens in einem Jahr zu rechnen ist, zu bleiben. Valentin sagt mit Freuden zu, und die Reise unter märchenhaft-abenteuerlichem Stern beginnt. Bereits die Schiffsreise über das Mittelmeer ist recht brisant, als schließlich aber Tiere, Zelt und Menschen vor Arabien vor Anker gehen und die bunte Welt des Zirkus mit der nicht minder bunten der Hauptstadt Arabiens (unter den überaus seltsamen Umständen) zusammentrifft, entwickelt sich folgerichtig ein buntes Treiben von waghalsigen Zirkusnummern, nächtlichen Friedhofsbesuchen, heißen Liebschaften und dergleichen mehr.
Valentin und sein alter Freund nehmen daran teil, stehen gleichzeitig aber auch reflektierend darüber; am Nachmorg, einer verbalen Neuschöpfung dieses Buches, der Zeit kurz vor bis zur Morgendämmerung sitzen Valentin und sein Freund bei orientalischen Leckereien zusammen, lassen die wichtigsten Ereignisse des Tages und des bisherigen Lebens Revue passieren, erzählen einander wirkliche und erfundene Geschichten von Glück und Unglück, Liebe und Fürzen. Überhaupt ist Valentin seit der Einladung wie verwandelt, er nutzt die goldene Gelegenheit um sich mittels der neuen Herausforderungen, der neuen Umgebung und des beschleunigten Pulsschlags energetisch aufzuladen, Schwere und Griesgram abzuschütteln und sich von Tag zu Tag mehr zu verjüngen.
Dieser Verjüngungsprozess macht - neben der Kulisse aus Zirkuswelt in tausend und einer Nacht - denn auch einen Großteil des Reizes dieses Buches aus. Vielerlei Szenen schildern überzeugend, wie die kleine Magie des Alltags zu unseren Gunsten wirken kann, wie man Glücksfälle, wie sie Valentin passieren, einladen, anlocken kann, auf dass man sich dann von ihren Wogen tragen lasse. Erzählt wird das ganze in einem neuartigen Tonfall, schlicht, beinahe naiv, wobei die Schattenseiten des Lebens nicht ausgeklammert, sondern einer sie auf das Minimum ihres tatsächlichen Gehalts zurückstutzenden positiven Kraft, genieße den Augenblick im besten Sinn!, ausgesetzt werden. Den Deckel von Schamis neuestem Buch ziert übrigens ein Bild von Chagal, und in der Tat ist der Maler in seiner melancholischen Heiterkeit, seiner Sehnsucht nach Kindlichkeit und Unschuld, und natürlich auch in seiner Liebe zur bunten Welt des Zirkus einer der nächsten geistigen Verwandten.
(fritz; jan.02)
Rafik
Schami: "Reise zwischen Nacht und Morgen"
dtv-taschenbuch, 2002.
ca. EUR 9,00.
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