Klaus Schafmeister: "Höllenfahrt"
Im
Sumpf einer mörderischen
Familiengeschichte
Dieses Erstlingswerk des 1952 geborenen Klaus Schafmeister ist in
mehrfacher Hinsicht ein außergewöhnliches Buch.
Selbst eher eine Landratte, hat sich der Autor eine Landschaft
für seine Romanhandlung ausgesucht, wie man sie sich rauer und
einfacher in Deutschland kaum vorstellen könnte. Er verlegt
die Handlung in das Jahr 1962, in die Vorwochen jener großen
Sturmflut,
die damals nicht nur für Hamburg eine große
Katastrophe war und die den späteren Bundeskanzler Helmut
Schmidt, damals Hamburger Innensenator, binnen Tagen ob seines genialen
Krisenmanagements an die Spitze der nationalen Öffentlichkeit
spülte.
Die kleine Hallig, auf der sich im Wesentlichen die Handlung des Romans
abspielt, lässt Schafmeister in diesem Orkan
endgültig verschwinden - in einer "Höllenfahrt".
Außergewöhnlich ist das Buch, weil Schafmeister eine
so in der letzten Zeit nicht gelesene Sprache benutzt, eine Sprache,
die in ihrer reduzierten Grammatik, ihrer Derbheit und teilweise ans
Brutale grenzenden Gewalt nichts Anderes versucht, als die
Brutalität, die Einsamkeit und die Macht des Alkohols, die das
Leben der Menschen auf jener kleinen
Insel prägen, nachzubilden und dem Leser einen auch
sprachlichen Eindruck davon zu geben.
"Höllenfahrt" erzählt die Geschichte von Engelke
Kristensen, der Tochter des Inselwirtes und ehemals sehr aktiven
Alkoholschmugglers Paale Kristensen. Dieser ist sehr stolz auf seine
Familiengeschichte aus Schmugglern und Piraten.
Nachdem ihr Vater eines Tages um
die Jahreswende 1961/62 einen Schlaganfall erlitten hat, kehrt
Engelke
notgedrungen auf die kleine Insel im nordfriesischen
Wattenmeer
zurück, die sie lange Zeit vorher, ebenso
notgedrungen, wie der Roman ausführlich erzählt,
verlassen hat; für immer, wie sie damals glaubte.
Alle ihre verzweifelten Versuche, nach ihrer Rückkehr das
Gasthaus und die vielen halbseidenen Geschäfte ihres Vaters
weiterzuführen, ziehen sie immer tiefer in den
mörderischen Sumpf einer wirklich tragischen
Familiengeschichte und spülen auch lange Verdrängtes
in Engelkes Seele wieder hoch.
"Höllenfahrt" erzählt, wie der Sturm, auf dessen
Höhepunkt das Buch, in Sprache und Dramatik immer intensiver
werdend, zuläuft, von den letzten Tagen im Leben einer
Familie, der irgendwann vor langer Zeit der Sinn für die
Bedeutung von Moral und Menschlichkeit abhanden gekommen ist und die am
Ende in einer furiosen "Höllenfahrt" in Mord und Totschlag
auseinander bricht.
Klaus Schafmeister hat nach Ansicht des Rezensenten mit seinem Erstling
großen Mut bewiesen, indem er eine
spezielle, dem Sujet durchaus angemessene Sprache einsetzt.
(Winfried Stanzick; 12/2007)
Klaus
Schafmeister: "Höllenfahrt"
Schöffling & Co., 2007. 357 Seiten.
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Klaus Schafmeister, geboren 1952 in Lemgo, lebt in Georgsmarienhütte. Er arbeitet im öffentlichen Dienst sowie als Redakteur bei verschiedenen Regionalzeitungen.
Leseprobe:
Der Chef vom "Bischof Absalon" hat Engelke am Morgen des ersten
Februar 1961 ins Kontor rufen lassen und ihr das Telegramm in die Hand
gedrückt
VATER SCHLAGANFALL - LEBENSGEFAHR - SOFORT KOMMEN - OELKES.
Mehr stand nicht da.
Sie bekommen natürlich Urlaub, brauchen Sie mehr als sieben
Tage?
Die Frage des Maitre konnte Engelke nicht gleich beantworten, sie
entschloss
sich aber zu einem wohl kaum!
Der Alte war Jahre weit weg gewesen, ein spärlicher Besucher;
der Auszug damals
war gar nicht schön: die Tochter verloren an einen
Dänenburschen, an
Kopenhagen, den Moloch.
Und der "Walfisch"? Geh zum Teufel, undankbarer Balg! Hure!
So sind die alten Schädel.
Er hatte natürlich im "Bischof Absalon" wohnen müssen
mit Blick auf
die Carlsberg-Brauerei, logisch, wenn der Vater nach einem Jahr
herkommt und
sich überzeugt, dass die Tochter doch nicht in Vesterbros
Hurenhäusern
gelandet ist, sondern richtig beim "Bischof" in Vollpension mit
Fisch-Restaurant.
Ist eine Woche später wieder heim nach Holgrunt.
Dabei blieb es jahrelang. Niemand hat unstillbares Verlangen nach dem
anderen
gehabt, ein Kärtchen hier, ein Briefchen da. Verziehen hatte
der Alte ihr
nicht. Aber sie waren einander im ausreichenden Maße gewiss
und im Fall des
Falles greifbar, das wusste man, das reichte ja auch.
So hielt sich Engelke Kristensen im Stadtteil Vesterbro verborgen, dem
Kopenhagener Arbeiterviertel, wo du keine Pelzgeschäfte
findest, aber eben die
Carlsberg-Brauerei, dazu Puffs und Rabaukenkneipen, wo sich auch heute
immer
noch das Leben entfaltet, abspult, wo immer noch die
"gewöhnlichen Leute"
leben und auf den Hund kommen.
Diese Leute.
Daran musste sie denken beim Blick aufs Telegramm.
Vier Jahre sind ein kleines Stück Ewigkeit. Aber ein Schlag
ist ein Schlag und
zweifellos was ganz Großes.
Und dann kam es ihr doch mit Rotz und Wasser über den Alten.
Am Frühmorgen des zweiten Februar setzt sie sich also in die
Bahn, ist mit der
Fähre über den Sund, im Omnibus über die
Straßen, die Hügel, die
Brücken,
Geest, Marschen, immer der Nase nach.
Am späten Mittag steigt sie in Klippsbüll aus dem
Bus, holt tief Luft: wie früher
das gleiche Fischmehl!
Traut sich nicht gleich hinaus nach Holgrunt. Macht Mittag im "Kiek
in",
wie die Lokalität hieß, als Engelke auf und davon
ist. Jetzt riecht die Hütte
nach Bratenfett und nennt sich "Schlemmertempel Godewind - das
Pommes-Paradies", wo fettige Engel in himmelblauen Blusen daherschweben
mit
dem Tempel hinten drauf und dem Paradies vorne dazwischen gedruckt.
Dazu tragen
die Himmlischen statt Flügeln Eisverkäuferschiffchen,
der Mint im Eck lärmt
bei der Super-Sieben, was die siedenden Madonnen jedoch einen Dreck
interessiert, und aus ihrem Öl sehen sie schon gar nicht auf!
Ach guck: die Daniela Boysen, das Sardinenkind - die arbeitet hier
behalt die
neumodernen Kartoffelfleppen, gib Nudelsalat mit ner schönen
Holzkohlebratwurst,
hey Dani, lange nicht gesehen!
Doch Dani hat für Engelke nur ein müdes Hallo
übrig.
Ahnte Engelke, dass sie Amalia Boysens Tochter, ihre
Kinderspielgefährtin,
nicht wiedersehen wird, weil die sich eine Woche später um den
Baum faltet mit
ihrer Isetta, mit ihrem Mann und dessen blökendem Asthma,
ahnte sie das, ließe
sie sich nicht so kurz abspeisen.
Aber so bleibts beim Hallo! für die Ewigkeit.
Das Wetter zeigt Mitleid. Es ist zwar kalt, aber sonnig überm
Dunst.
Postbootsmann Oelkes ist zu diese Stunde natürlich nicht
greifbar, Engelke
heuert deshalb den Michael, den Jüngsten vom Hellinghofbauern,
ein wenig blöd
zwar, aber mit einem stabilen Motorkahn. Der pröttelt sie
ausnahmsweise hinüber
für zwei Mark bist wieder da? Dann komm, Frollein Engelke,
jetzt fahrn wir übern
See!
Sieben Kilometer, sieben Stoßgebete. Sie taucht
zurück in den Nebel, der
augenblicklich verflog, als Engelke schaut her: Ich bins! Kopenhagen
erschütterte.
Das Boot biegt aus dem Spätnachmittagsdunst und um die letzte
Klippe: der
Anleger, der "Walfisch", die sieben Häuser, die Kapelle, die
Erinnerungen - Holgrunt liegt wohlig ausgestreckt im Watt und
grüßt die
verlorene Tochter.
Der Helling-Sohn bietet der Engelke den Arm fürs sichere
Aufentern auf die
Plattform, sie ist aber mit einem Satz vom Kahn, über die
Planken und durch die
"Walfisch"-Luke, lässt das Parterre mit dem Doktor, der Boysen
und
dem Brandinck hinter sich, springt gleich hinauf zum Vater.
Und als sie ihn liegen sieht mit den glasigen Augen, den blauen Lippen,
die Hände
zusammengekrampft und mit einer so spitzen Nase, als wolle er damit den
Himmel
aufreißen, da stürzt sie auf ihn ein, macht seine
Lippen mit ihren Tränen heiß
und nass und will ihn auftauen aus seinem ewigen Eis.
Sitzt am Bett bis zum Sonnenuntergang, sieht den Staub in den letzten
Strahlen
tanzen, steckt dem Jesus an der Wand eine Schießbudenrose zu
Füßen. Sitzt
weiter da, bis Amalia sie herabzieht zum Abendbrot. Das würgt
sie herunter, während
die Boysen in der Küche kramt, brummelt, dass nichts
unsterblich sei unterm
Himmel, der Kristensen vom Schlag getroffen und Gott bald seiner Seele
gnädig
in drei Teufels Namen!
Der Doktor ist praktischerweise mit Jung Michael
zurückgefahren. Hoffnung hat
er nicht gehabt Schlaganfall, ich kann Ihnen nur den Sauerstoff
hierlassen, die
Tabletten. Ihr Vater lebt. Wie lange noch, weiß ich nicht.
Jedenfalls ist er
nicht transportfähig, müssen abwarten.
Und die Amalia Boysen sagt darauf laut und deutlich vor sich hin, es
wär für
den Alten und eigentlich für alle eher eine Gnade,
könnten sie den Paale
Kristensen bald einem Klippsbüller Acker ins Maul geben, die
Grube von den
Grabeknechten zupoltern lassen mit friesischer Erde. So die ihn
überhaupt haben
wolle.
Danach ist Engelke wieder hinauf. Und irgendwann kriegt sie einen Hass
verflucht, warum das alles? Einen Hass auf den Gott, der so was
einfädelt,
zweifach verflucht und dreifach warum gerade Papa warum gerade ich und
überhaupt!
Reißt das Kreuz von der Wand, wirfts ins Feuer und schreit
zum Bischof Absalon.