Bernard-Henri Lévy: "Sartre"
Der Philosoph des 20. Jahrhunderts
Lévy
begnügt sich nicht damit seinem Publikum einfach nur einen
möglichst detailgetreuen Abriss von Sartres Leben und Werk zu
vermitteln. Er würdigt Sartre, respektvoll, doch ohne falsche
Rücksichtnahme. Das Ergebnis könnte nicht
zwiespältiger ausfallen, denn obgleich der Biograf den
Porträtierten als bedeutsamen Kopf zu schätzen
weiß, zu den großen Philosophen des 20.
Jahrhunderts zählt er ihn dennoch nicht. Und schon gar nicht
ist er bereit Sartres Person zur Lichtgestalt zu
überhöhen. Wie wir später noch sehen werden,
ist es Lévy primär um Gerechtigkeit zu tun.
Wie kommt es dann, dass Lévy seine Sartre-Biografie mit "Der
Philosoph des 20. Jahrhunderts" untertitelt? Nun, Sartre verstand es
wie kein Anderer, eine Hegemonie des Denkens zu errichten. Er
beherrschte das intellektuelle Leben seiner Zeit und erlangte mit
seinen Romanen, seinen Dramen und nicht zuletzt seiner Philosophie des
Existenzialismus eine Popularität, die bis dato ihresgleichen
sucht. Sartre prägte eine Epoche, war Lebensart, der sich
unzählige seiner Zeitgenossen anschlossen. Es war en vogue im
finsteren Existenzialistenlook zu gehen.
Als
man Sartres sterbliche Überreste zu Grabe trug,
huldigten ihm trauernde Massen wie es ansonsten nur Imperatoren zuteil
wird. Sie verabschiedeten ihn als einen Imperator des Geistes.
Für gewöhnlich setzen Biografien mit der Geburt des
Porträtierten an und enden mit dessen Ableben. Der Rezensent
beugt sich diesem Brauch und datiert faktengetreu die Geburt Jean-Paul
Sartres mit dem 21. Juni 1905 in Paris. Am 15. April 1980 scheidet
Sartre aus dem Leben; wiederum in Paris. Somit ist der Chronologie zur
Vita des Philosophen wohl kaum schon genüge getan;
Lévy verwirft diesen Zwang zur Dramaturgie des Lebens
überhaupt weitestgehend. Seine Biografie ist ohne Zeittafel.
Auf die bei anderen Sartre-Biografen (bspw. Walter Biemel: Sartre)
beliebten entwicklungspsychologischen Deutungsversuche zu Sartres
Kindheit (Sartre wurde 1907 Halbwaise und kam in die Pflege seiner
Großeltern) lässt sich Lévy erst gar
nicht ein. Ihm geht es primär um die Charakterisierung Sartres
als totalen Intellektuellen, der vermittels seines
unermüdlichen Schaffens als Leidenschaft des Denkens
über uns hereinbrach. Weniger Sartres Lebensweg, vielmehr
seine Wirkkraft findet sich im Focus dieser Betrachtung. War doch
Sartre eine wahrhaftige Schreibmaschine, dem sein Dasein selbst wenig
zählte, wann immer er nicht schrieb.
Sartres
Philosophie
Wie wir wissen, war Sartre radikaler Freiheitsphilosoph. Der Mensch ist
frei, in jeder Lebenslage, selbst noch in seiner tiefsten Erniedrigung
als ein in Ketten geschlagener Sklave. Und wer, wie Sartre selbst, als
Soldat in den Weltkrieg zog, der tat dies - trotz Wehrpflicht und trotz
Erschießungsdrohung gegen Fahnenflüchtige -
freiwillig, denn des Menschen Bestimmung zur Freiheit ist absolut. Aus
dieser sicherlich extremen Position resultiert eine umfassende
Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen für all sein Tun und
Lassen. Kein Gott steuert die Geschicke, und keine Sozialgemeinschaft
prägt in letztbestimmender Weise den Charakter. Die Gruppe ist
eine Feindseligkeit, jeder Blick, der mich trifft, ist eine
Kriegserklärung. Die Hölle, das sind die Anderen.
Nicht nur die Selbstverantwortung, auch die Einsamkeit des auf sich
selbst zurückgeworfenen Einzelnen, ist absolut.
Aus dieser Absolutsetzung von menschlicher Freiheit ergibt sich in der
Konsequenz Sartres unversöhnliche Gegnerschaft zu
Sigmund
Freuds psychoanalytischem Weltbild, welches - grob vereinfacht gesagt -
den Menschen als Produkt unverdauter, weil unverdaulicher,
Vergangenheitserinnerungen beschreibt. Erinnerungen, die innerpsychisch
unbewusst wirken, also auch nicht bewusst sind, über
Verdrängungsmechanismen das Seelenleben bis hin zur Erstarrung
beeinträchtigen und solcherart des Menschen Wesensbestimmung
zur Freiheit subversieren. Sartre hält dem einen
intellektuellen Heroismus entgegen, der sich bei hinreichender
Selbsterkenntnis keiner Bestimmung durch den eigenen Lebenslauf beugt.
Sich selbst erkennen und Stellung zu sich beziehen ist für ihn
nicht eine Frage der Bewusstmachung von Unbewusstem, sondern eine
Angelegenheit schonungsloser Ehrlichkeit im Umgang mit sich selbst.
Unbarmherzig verwirft er Freuds Begrifflichkeiten; konterkariert sie
mit seiner Terminologie, zerreißt das Thesenpapier zum
Menschenbild der Psychoanalyse mit bissiger Polemik in der Luft und
denunziert sie als bestenfalls "harmlose Mythologie". Das Unbewusste
sei denn in der Tat nichts als Unaufrichtigkeit. Keiner dürfe
sich auf frühkindliche Tragödien ausreden; jeder ist
im Hier und Jetzt Souverän seiner Selbst und dazu berufen sich
in einem schöpferischen Akt auf die Zukunft hin zu entwerfen.
Und das allemal in dem unglücklichen Bewusstsein, dass
jedweder Selbstentwurf zum Scheitern verurteilt ist.
Die Radikalität Sartres fasziniert und irritiert. Sie wertet
unser Weltbild fundamental neu, wenn sie allfällig - wie in Die
Fliegen (franz. Les Mouches 1943) - den
Mord zum Freiheitsakt stilisiert. Dass diese nur schwer begreifliche
Philosophie ihre Kritiker fand, mag nicht weiter verwundern und
Lévy hält auch nicht damit zurück, den
Kritikern partiell Recht zu geben. Dies allerdings auf charmant wendige
Weise über eine scharfsinnige Deutung von Sartres
Standpunkten, die in der Konsequenz dann eher der Kritik
unbekömmlich wird. So liquidiere Sartre die Psychoanalyse
nicht, sondern radikalisiere sie vielmehr und säubere sie
lediglich vom überflüssigen Beiwerk einer Mythologie
des Unbewussten, die in ihrer Mischung aus mysteriöser
Finalität und obskurem Mechanismus für
ihn unannehmbar ist. Richtig liege die Kritik
hingegen mit ihrem Hinweis, dass sich das Leben in seiner ganzen
Reichhaltigkeit doch eher in der Mitte zwischen den Existenzweisen des
Für-sich und des An-sich abspiele und nicht in den miteinander
unvereinbaren Existenzweisen selbst. Sartres philosophischer
Extremismus gehe zuweilen zu weit. Und wenn Sartre auch selbst in
"Der
Existenzialismus ist ein Humanismus" den vorgeblich
humanistischen Wesenszug seiner Philosophie betont, so wagt
Lévy ausgerechnet dazu die Antithese, nämlich dass
dieser in der Tat ein Antihumanismus sei, und garniert seine
Begründung mit Anmerkungen zum philosophischen Selbstverrat
des späteren Sartre und zum generell zweifelhaften Charakter
des Humanismus, dem allemal eine höhere oder auch saubere Idee
des Menschen vorschwebt; demnach aber ebenso der Hitlerismus und der
Stalinismus als humanistische Ideenlehren - wenn auch in rein
pervertierter Gestalt - zu erachten seien.
Fauxpas
Schärfer geht Lévy mit Sartre ins Gericht, wenn er
auf die geistesgeschichtlichen Grundlagen zu Sartres Philosophie und
philosophischer Belletristik zu sprechen kommt. Zuerst einmal macht
Lévy anschaulich, wes Geistes Kind Sartre war und tut dies
vermittels umfassender Ausführungen zu Gide, Dos Passos,
Joyce, Kafka,
Céline, Bergson,
Hegel,
Nietzsche,
Husserl und Heidegger. Weiß man um die Lebensläufe
und die Werksgeschichte jener Personen hinter den rühmlichen
Namen, so wird man sich sofort der Brisanz bewusst, die darin lauert.
Wer es nicht weiß, wird von Lévy darauf
gestoßen.
Sartres philosophischer Roman Der Ekel (franz. La
Nausée) - ein Kultbuch der jüngeren
Literaturgeschichte - ist im Geiste Célines geschrieben. Das
berüchtigte Motto von Der Ekel "Das ist
ein Bursche ohne kollektive Bedeutung, das ist ganz einfach nur ein
Individuum" stammt, wie jeder weiß,
von
jenem Louis-Ferdinand Céline, der, so
Lévy, gewiss ein genialer Schriftsteller, aber ebenso ein
übler Antisemit ohne die geringste Berührungsscheu
zum Nationalsozialismus war. Lévy führt den
Nachweis, dass der genannte Wahlspruch zu Der Ekel aus
Célines antisemitischer Schrift L' Eglise entnommen
ist und Sartres Roman in seinen zentralen Aussagen und
schönsten Wortfügungen beinahe zitatgetreu auf das
Célinesche verweist. Mit Fug und Recht stellt sich
Lévy dazu die Frage, ob sich der glühende
Antifaschist Sartre denn nicht seines geistigen Konkubinats mit der
Gesinnungswelt des Faschismus bewusst war.
Als besonders problematisch erachtet Lévy des Weiteren
Sartres enge Anlehnung an die fundamentalontologische Philosophie des
Deutschen Martin Heidegger, den der Autor zwar als - vermutlich -
größten Philosophen des 20. Jahrhunderts
schätzt, dessen weltanschauliche Gesinnung er jedoch als dem
Nationalsozialismus innig verbunden wertet. Eine Gesinnung, die, so
Lévy, nicht nur biografisch, sondern auch werksanalytisch
nachweislich ist. Auch über diese blank liegende Wurzel ist
Sartre sehenden Auges gestolpert, indem er Heidegger
ursprünglich geradezu idolisierte, ihn - offenbar - als
Existenzphilosophen (der Heidegger weder war, noch sein wollte)
gründlich missverstand und im Jahre 1952 sogar die
Erniedrigung auf sich nahm, zum Meister nach Freiburg zu pilgern, was
der zurückgezogen lebende Heidegger bekanntlich wenig
goutierte, was ihn einfach nur als unwillkommene Aufdringlichkeit des
jüngeren Franzosen nervte und in weiterer Folge den solcherart
deplatziert verfahrenden Sartre zumindest ob des bis dahin verehrten
Abgottes heilsam desillusionierte, denn der Besuch endete für
alle Beteiligten höchst übellaunig. Sartres
philosophisches Hauptwerk Das Sein und das Nichts
(franz. L'Être et le Néant 1942)
ist nun zwar nicht unbedingt ein Buch "im Geiste Heideggers", zumal
Sartre Heideggers Denkweisen, wie schon gesagt, verkannt hat (es war
Sartres Untugend, die Bücher der Anderen nicht
mühselig zu studieren, sondern in flüchtiger
Lektüre zu plündern; was für Lévy
so manchen Sartreschen Irrtum erklärt), doch, so Robert Zimmer
in "Das
Philosophenportal", schließt Sartre an Heideggers
Thematisierungen unmittelbar an. Und so stellt sich einmal mehr die
Frage nach Sartres unfassbarer Blindheit in Bezug auf gar nicht so
versteckte Makel und Ungehörigkeiten in den Werken anderer
Geistesgrößen. Und wenn Simone de Beauvoir 1960 in La
Force de l'âge schreibt: "Sartres
Originalität bestand darin, dass er dem Bewusstsein die
stolzeste Unabhängigkeit zubilligte und dabei der
Realität ihr volles Gewicht ließ", so mag das in
Hinblick auf seine Philosophie vielleicht zutreffen, in seiner
Lebenspraxis wollte er aber nur allzu oft nicht wahrhaben was Sache ist.
Heidegger ist vielen Freunden der Philosophie eine schmerzliche
Herausforderung. Wie kann man zugleich der größte
Philosoph des 20. Jahrhunderts und ein Nazi sein? Diese
quälende Frage stellt sich Lévy in dem
eingeschobenen Kapitel Anmerkung zur Heidegger-Frage über
gut 30 Seiten und kommt einmal mehr zu dem deprimierenden Schluss, dass
dem so ist wie es ist und dass man damit leben muss. Lévys
Befund zu Heideggers Person und Denken fällt schlimmer als
befürchtet aus. Es stimmt, Heidegger distanzierte sich
frühzeitig von den Nationalsozialisten. Dies aber nicht aus
Abscheu, sondern weil sie ihm zu wenig radikal waren. Heidegger
stilisiert die Vorstellung einer Auferstehung des antiken Griechenlands
in deutschem Gewande. Im Augenblick des Triumphs
größter Barbarei deklariert er das deutsche Volk zum
"Volk der Metaphysik", das zum "geschichtlichen Volk" schlechthin
berufen ist, zum Retter des "Abendlands" vor den "zwei Arten von
Barbaren", den Russen und den Amerikanern. Die Nationalsozialisten
verklärt er als Hellenen, Hitler als Reinkarnation des
Perikles, und Heraklit ist Heidegger zufolge als "Urmacht des
abendländisch-germanischen Daseins" eine Art Deutscher.
Heidegger blieb bis zu seinem Tod am 26. Mai 1976 ein Unbelehrbarer und
ein Verächter der Demokratie. Und man wundert sich
über Sartre, der das alles nicht sah, nicht sehen wollte.
Der letzte Stalinist
Noch nicht genug der anrüchigen Peinlichkeiten, bzw.
peinlichen Anrüchigkeiten, die Sartre geliefert hat. Der
schwärzeste und peinlichste Punkt in Sartres Leben ist und
bleibt seine in den 1950erjahren vollzogene Hinwendung zum
Stalinismus,
was nicht nur seine Freundschaft - seine einzige
Männerfreundschaft übrigens - mit dem unbestechlich
integeren Albert
Camus endgültig ruinierte, sondern Sartre
überdies zum Verräter an seiner eigenen
Freiheitsphilosophie und zum Zensor und Fälscher seines
eigenen Schrifttums verkommen ließ. Dass Existenzialismus und
Marxismus nicht unter einen Hut zu bringen sind, hat schon der
polnische Soziologe und Philosoph Adam Schaff in seiner 1961 erschienen
Studie Marx oder Sartre? überzeugend
dargelegt. Sartre kümmerte dies wenig. Er ignorierte vielmehr
sämtliche Erlebnisberichte über Gräuel im
sowjetischen Gulag und schloss sich stattdessen der leichtfertigen
Meinung an, es handle sich dabei um imperialistische Propaganda. Als er
im Dezember 1952 zum Treffen der "Weltfriedensbewegung" (die
stalinistische Internationale) in Wien weilte, gab es der Zufall, dass
sein antistalinistisches Stück Die schmutzigen
Hände (franz. Les mains sales,
Paris 1948) an einem Wiener Theater aufgeführt wurde. Dem
eifernden Neostalinisten Sartre war dies höchst peinlich, und
so setzte er Himmel und Hölle in Bewegung um ein
Aufführverbot des eigenen Stücks durchzusetzen. Was
ihm schließlich auch gelang.
1954 berichtet Sartre, gerade erst von einer Reise aus der Sowjetunion
zurückgekehrt, in einem Interview mit der kommunistischen Libération:
"In der Sowjetunion herrscht uneingeschränkte Freiheit der
Kritik." Nicht einmal Chruschtschows Abrechnung mit Stalin
(Parteitagsrede vom 24. zum 25. Februar 1956), die die westlichen
Linksintellektuellen wie ein Donnerschlag aufscheucht, nimmt Sartre zum
Anlass für eine Selbstbesinnung. Lévy
empört sich zu recht, wenn sechs Monate später,
unmittelbar nach dem sowjetischen Einmarsch in Ungarn, Sartre die
unglaubliche Kühnheit besitzt, in einem Interview
gegenüber L' Express zu
äußern, innenpolitisch halte er die
Veröffentlichung jener Rede für den
"größten Missgriff", den das Regime begangen habe.
Das einzige und betrübliche "Ergebnis" dieser Angelegenheit
werde sein, dass "den Massen die Wahrheit" enthüllt wurde,
"ohne dass diese für deren Aufnahme schon bereit gewesen
wären". (Der Rezensent kann jetzt nicht umhin, Lévy
zu bekritteln, dass er, der lieben Ausgewogenheit zum Dienste, an
dieser Stelle von Sartres öffentlichem Protest gegen
das
sowjetische Vorgehen in Ungarn, Le Fantôme de
Staline berichten hätte sollen.) Für
Lévy ist dieses Interview jedenfalls eine arge
Bankrotterklärung des einstigen Freiheitsphilosophen Sartre.
Und es sollte noch eine Zeit lang dauern, bis Betonkopf Sartre die
eigene Peinlichkeit als solche zu erkennen lernte. Spätere
Selbstrechtfertigungen und Ausreden quittiert der Biograf dem
Porträtierten dann auch mit unverhohlenem Zorn, zumal bei
Sartre dem früheren Lob des Stalinismus in den 1970erjahren
ein späteres Lob des Terrorismus folgen sollte.
Gerechtigkeit für Jean-Paul Sartre
Mit dieser quasi juristischen Festlegung betitelt Lévy den
zweiten Teil seiner dreiteiligen Biografie, in der es um eine
möglichst glasklare Würdigung des großen
Franzosen geht. Sartre gibt nun ein denkbar störrisches Bild
ab, und wie aus dieser Rezension unschwer zu erkennen ist, hat der
Porträtist seine liebe Not mit der zwiespältigen
Figur, die er aus Neigung und Zuneigung dem langsamen Vergessen
entreißen will. Sartre war einst ein Star des geschriebenen
Wortes, wofür man ihm 1964 den
Nobelpreis für Literatur verlieh, dessen Annahme der
antibürgerliche Maoist freilich ablehnte. Heute werden seine
Stücke kaum noch aufgeführt und seine Bücher
immer seltener gelesen. Der Nachruhm verblasst. Sartre ist
unzeitgemäß geworden. Womit sich Lévy
erklärtermaßen nicht abfinden will.
In den obigen Abschnitten dieser Rezension war in Zusammenhang mit
Anhänglichkeiten und Missgriffen viel von Sartres
sprichwörtlicher Blindheit die Rede, es hagelte Kritik, was
jedoch nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass
Lévys Biografie auch sympathisierende Momente aufweist,
Sartre zuweilen in einem liebenswürdigen Licht zeigt und sein
literarisches Schaffen ehrt. Sartre verstand sich als engagierter
Schriftsteller, der schrieb um zu verändern. Er war sein
Lebtag lang weltanschaulich linksgerichtet, nach französischer
Auffassung also Maoist [womit nach franz. Auffassung alle politischen
Bewegungen links von der Moskau treuen Kommunistischen Partei
bezeichnet sind], mischte sich ins Zeitgeschehen ein, verkroch sich
nicht. Äußerlichkeiten galten ihm herzlich wenig,
was man ihm auch ansah. Sein geistiger Schaffensdrang war
dermaßen stark ausgeprägt, dass er weder
für Körperpflege noch für die Nahrung der
Seele, den Schlaf, genügend Zeit erübrigte. Sartre
betrieb Raubbau an seiner Gesundheit, um zu schreiben. Er liebte die
Frauen (seine
Paarbeziehung mit Simone de Beauvoir ist legendär),
die ihn, so Lévy, trotz seiner Ekel erregenden
Hässlichkeit und unübersehbaren hygienischen
Nachlässigkeiten zumindest ob seines Charismas mochten,
obgleich nicht im erhofften erotischen Sinne begehrten. Und es spricht
eben auch für die besondere Güte von Lévys
Sartre-Biografie, dass er diese nur allzu privaten Aspekte -
Frauenliebe, Hässlichkeit - nicht losgelöst von jeder
literarischen Verflechtung rein lebensdramaturgisch auf die Person des
Porträtierten beschränkt, sondern in einen
Gesamtkontext mit dessen intellektuellem Schaffen stellt.
So eben diese unerträgliche und ungerechte
Hässlichkeit, die, aller Schönredekunst zum Trotz,
niemals schön sein kann, für alle Lebenszeit
entstellt, jede Versöhnung mit der Welt
verunmöglicht, jeden Verschmelzungstraum frühzeitig
platzen lässt und deren fatale Tragweite für das
weitere Leben dem Knaben in jungen Jahren über die
Zurückweisung scheu vorgebrachter Annäherungsbegehren
durch angebetete Mädchen zur grausamen Gewissheit wird, sie
wird in Der Ekel manifest und manifestiert sich
des Weiteren in Sartres Metaphysik der Freiheit, die sich mit keiner
Festlegung abfindet und gegen jedwede Daseinsbestimmung rebelliert.
Lévy mutmaßt in Sartres früher Erkenntnis
der eigenen Hässlichkeit eine metaphysische Lektion, welche die
Quelle jenes "Anti-Essentialismus" ist (die Existenz geht der
Essenz voraus), was unter Anderem die Faszination Sartres ausmacht.
"Man kommt nicht als Jude zur Welt, man wird es." Analog dazu: "Man
kommt nicht hässlich auf die Welt, man wird es."
Alles, selbst die Hässlichkeit, ist der Prüfung eines
unendlichen Vermögens zur Freiheit unterworfen. Jeder Mensch
ist für sein Gesicht selbst verantwortlich und bekommt nach
intensiver Arbeit an sich selbst die Physiologie, die er verdient.
Manche hat dies erzürnt, zumal Sartre somit die Gnade
naturgegebener Schönheit negiert und stattdessen auf
Tugendhaftigkeit zurückführt, was im Einzelfall das
Maß der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit noch
verschärft, zumal der ästhetisch
Unzulängliche jetzt auch noch den Vorwurf sittlicher
Nachlässigkeit zu verdauen hat. Doch ganz falsch liegt Sartre
damit wohl auch nicht, ist man sich nur der hässlichen Fratzen
frühzeitig verlebter Gesichter diverser Lebemänner
gewahr. Ueber Anmuth und Würde von
Friedrich Schiller mag ein weiteres Beispiel dafür
sein, dass nach Meinung großer Denker "Schönheit"
nicht unbedingt nur ein unverdientes Naturgeschenk ist, sondern
durchaus in Bezug zur Lebensethik gesetzt werden darf.
Warum Sartres Freiheitsphilosophie extremistisch sein musste, warum er
sich - in zuweilen geradezu grotesker Manier - über die
Faktenlage der Wirklichkeit erhob, Justamentstandpunkte bezog, wo
stures Festhalten an einer überlebten Auffassung nur noch
lächerlich schien, beginnt sich nun aufzuklären.
Lévy schreibt in seinem Kapitel Kurze Bemerkung zu
Sartres Hässlichkeit: "Am Anfang der Sartreschen
Freiheit steht jene Unordnung, jene frühe Gewalt, mit der kein
Programm fertig wird und die zur Metapher einer untilgbaren Schuld der
Welt wurde." Woraus sich eine philosophische Obsession zu einer
Freiheitsidee entwickelte, die nicht mehr entschiedener gedacht werden
kann und welche dem von seinem Schicksal grausam misshandelten
Menschentier die Herrlichkeit absoluter Selbstbestimmung zur
Verkündigung bringt. In diesem Sinne betrachtet ist Sartre ein
metaphysischer Rebell gegen die Ordnung eines - allerdings strikt
geleugneten (Axiom von Gottes Nichtexistenz) - Schöpfergottes
oder Schöpfungsprinzips, dessen empörendes
Wesensmerkmal seine Gleichgültigkeit gegenüber den
Lebenden ist. Sartres Begriff von Freiheit ist somit eine Attacke
selbst noch gegen das, was scheinbar unabänderlich ist. Denn
jene die Freiheit fesselnden Daseinskonstanten, die gibt es
für Sartre, in dem Maße wie er sie philosophisch
negiert, nicht. Wenn Gott ist, dann ist er in uns und sein Zeichen ist
der Mensch selber, gibt Sartre, ganz erfüllt von
franziskanischem Geist, über sein Stück Der
Teufel und der liebe Gott seiner Mitwelt zu verstehen.
Der sehnsüchtige Wunsch nach einem Vermögen zur
souveränen Überwindung des Daseinselends in all
seiner Gestalt gelangt über Sartres Philosophie zur
wortmächtigen Artikulation als maß- und grenzenloses
Freiheitspathos. Ob er deswegen auch wirkmächtig, also
wirklich wird, das muss dahingestellt bleiben. Selbst Sartre blieb bei
aller Anstrengung sein Lebtag lang das, was er war: Ein
überaus populärer und durchaus herausragender
Schriftsteller mit Kultstatus, allerdings zugleich nur ein zwar
leidlich guter aber doch nicht genialer Philosoph, der, so
Lévy, wenn immer er sich mit wirklichen Meisterphilosophen
vom Schlage eines Hegel zu messen vermeinte, bei Zeiten allemal das
Handtuch zu werfen hatte. In ausgewählten Kompendien zur
Philosophiegeschichte bleibt Sartre in den meisten Fällen
immer noch ausgespart oder auf eine vergleichsweise kurze Notiz
reduziert.
Man darf festhalten: Seine - Sartres - Denkwege sind immer noch nicht
fester Bestandteil der
Denkwege der Philosophiegeschichte. Zu schwer wiegen auch
nach wie vor diverse Plagiatvorwürfe an seine Person, denn
Sartre hätte sich da und dort Gedanken entlehnt, unter anderem
Kierkegaard geplündert, ohne jeweils die Quelle
anzuführen und das modifizierte Zitat als solches zu benennen.
Vorwürfe, welche Lévy zwar unter Hinweis auf eine
unter Geistesschaffenden nicht unübliche, zuweilen vertretbare
und bei geringerer Obsorge kaum vermeidliche Praxis relativiert, jedoch
dem Grunde nach keineswegs in Abrede stellt, sondern vielmehr mit
eigenem Material bestätigt. Ob es für den seligen
Sartre nun also doch noch einmal zu mehr, vor allem zu mehr
philosophischem Nachruhm reichen wird, als Belletrist ist Sartre schon
etabliert und hoch geehrt, das wird - so banal das jetzt klingen mag -
die Zukunft weisen. Die zwar in jeder Hinsicht brillante doch
überaus kritisch gehaltene Biografie von Lévy ist
allerdings - eben der höchst kritischen Momente wegen - nicht
unbedingt eine Wegweisung im Sinne dieser Zielsetzung.
(Harald Schulz; 08/2005)
Bernard-Henri
Lévy: "Sartre"
Aus dem Französischen von Petra Willim.
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2002.
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Taschenbuch:
dtv, 2005. 672 Seiten.
ISBN 3-423-34176-9.
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Bernard-Henri Lévy, geboren 1948 in Béni Saf im damals französischen Algerien, ist einer der namhaftesten Intellektuellen Frankreichs und prominentester Vertreter der "Neuen Philosophie". Er leitet als einer der Direktoren das Verlagshaus Bernard Grasset.