Meinhard Saremba: "Leo Janáček. Zeit - Leben - Werk - Wirkung"
Dass oft für den Bewunderer schmerzhafte Diskrepanzen zwischen Schaffen und Schaffendem, zwischen Werk und Persönlichkeit, zwischen künstlerischer Potenz und Charakter bestehen, ist hinlänglich bekannt; das bekannteste - aber keineswegs, wie im folgenden gezeigt, extremste - Beispiel hiefür bieten Musik und Person Richard Wagners.
Einer der größten Komponisten des angehenden 20. Jahrhunderts war der Tscheche Leo Janáček, ein Schöpfer von ungemein ausdrucksstark- beseelter, packender und überdies höchst origineller Musik. Seine charakterlichen Qualitäten hingegen waren, wie auf dem Schutzumschlag des Buches von Meinhard Sarembas vermerkt, "zwiespältig", ein Wort von noch geradezu höflicher Zurückhaltung.
Politisch von sowohl kleinbürgerlich-engstirniger als auch rabiat-aggressiver nationaler Borniertheit - sein bedauernswerter Schwiegervater Emilián Schulz (trotz seines Familiennamens übrigens Tscheche) bezichtigte ihn völlig zurecht des "nationalen Fanatismus, an der Wahnsinn grenze", als Ehegatte und Familienvater von an Brutalität grenzender Tyrannnei, namenlosem Egoismus und unfassbarer Herzlosigkeit, war Janáček auch sonst ein eher unerfreulicher, (wahrscheinlich nicht nur leicht) psychopathischer, auf jeden Fall mehr als nur schwieriger Zeitgenosse. Sein nationaler Hintergrund war übrigens gar nicht so eindeutig: Seine Mutter, geb. Amalie Grulich, entstammte einer Freiberger Patrizierfamilie - war somit mit größter Wahrscheinlichkeit deutschstämmig (das nordmährische Freiberg, tschechisch Prschíbor, übrigens auch der Geburtsort von Sigmund Freud, war bis 1945 mehrheitlich, im Großbürgertum zweifellos ausschließlich deutsch). Überdies heirateten, wie Jaroslav Vogel erwähnte, vier seiner Brüder deutsche Frauen und "wurden [teilweise] Deutsche". Möglich, dass diese "Unsicherheit" den zeitbedingt als "Leo Eugen Janatschek" ins Geburtsregister der Gemeinde Hochwald (heute Hukvaldy) im Bezirk Místek Eingetragenen in seinem nationalen Wahn noch bestärkte, ein nationaler Wahn überdies, der zwiespältige Züge aufwies: seine Germanophobie war in erster Linie antihabsburgisch-österreichisch (bzw gegen die im eigenen Land lebenden Deutschen gerichtet) und hielt ihn, was Saremba nicht erwähnt, von einer gewissen Bewunderung für Preussen-Deutschland nicht ab, nach heutiger herrschender Anschauung also keineswegs eine von Weitsicht geprägte Haltung. So besuchte er anläßlich der Berliner Erstaufführung seiner wohl berühmtesten Oper "Jenufa" das Grab Friedrich des Großen und äußerte sich positiv über Berlin. Das späte, kurze Stück "Marsch der Blaukehlchen" ist eine allzu freundliche Reminiszenz an den preussischen Einmarsch in Brünn anno 1866 und dokumentiert den nachhaltigen Eindruck, den der Klang der preussischen Militärkapellen auf den jungen Janáček damals machte und der seine Instrumentationen nachhaltig beeinflusste. Eine Vorliebe für scharfe, weit auseinanderliegende Instrumentierungen, insbesondere für Pikkoloflöten, überhaupt für Holzblasinstrumente in höchster Lage, für Tambourine und überhaupt farbige Schlaginstrumente ist bei Janáček nicht zu überhören.
Die nicht wegzudiskutierenden dunklen Seiten tun der Bewunderung für Janáčeks Werk keinerlei Abbruch, auch wenn sich, anders als etwa im Falle Wagner, der Nationalismus in seinem Werk mitunter widerspiegelt. Dies gilt vor allem vor allem für die Textauswahl vokaler Werke, ist jedoch niemals sonst so radikal ausgeprägt wie im Männerchor "Česká legie" nach einem völlig vertrottelten Text von Antonín Horák, welcher -selbstverständlich unfreiwillig - durchaus eine gelungene Verhöhnung von Nationalismus und Militarismus nach der Art des Schwejk-Vollenders Karel Waniek (er läßt Schwejk tatsächlich in russischer Gefangenschaft auf nationale Agitatoren stoßen, die ähnlichen Schwachsinn äußern) abgeben würde; auch nicht übrigens in der Oper "Die Ausflüge des Herrn Brouček", deren Hussitenverherrlichung (obwohl sie zwar dem Janáček-Propagierer Max Brod übel aufstieß und ihn von einer Übersetzung ins Deutsche abhielt, dies mit der Folge, dass diese durchaus beachtenswerte Oper international weitgehend unbekannt blieb) sich durchaus im zeitbedingt üblichen Rahmen bewegte (auch der milde Antonín Dvořák schrieb eine Hussitenouverture) - sozusagen als (wenn auch handfesteres und blutrünstigeres) Pendant zum deutschnationalen Germanenkult. Trotz panslawistischer Anwandlungen richtete sich Janáčeks Nationalismus mitunter sogar gegen die Polen: Beispiele hiefür sind das Programm der Suite "Taras Bulba" und die Texte der als Männerchöre vertonten "Schlesischen Lieder" des Links-Nationalisten Petr Bezruč: "Kantor Halfar" und "Die 70.000". Letzterer Text handelt von Polonisierung und Germanisierung der Tschechen, welche dadurch im Gebiete um Teschen, welches heute tatsächlich zu Polen gehört, auf die Zahl von 70.000 zurückgedrängt wurden (heute, da die deutsche Bevölkerung der gesamten böhmischen Länder diese Zahl kaum mehr erreicht, ein nicht allzu aktueller Text...) In der berühmten Sinfonietta wird die erfolgreiche Tschechisierung Brünns gefeiert, in der Violinsonate die erwartete "Befreiung" Mährens durch die russische Armee im Jahre 1914. Selbst vorgeblich geistliche Werke, wie die großartige "Glagolitische Messe", haben einen nationalen bzw panslawistischen Hintergrund, die Begeisterung für altslawische Sprache und Überlieferung dürfte stimulierender gewirkt haben als Janáčeks nicht sehr ausgeprägte Frömmigkeit (so antwortete Janáček noch im Sterbebett zu Ostrau auf die Aufforderungen zweier Krankenschwestern, seinen Frieden mit Gott zu schließen, wiederholt sinngemäß: "Schwester, wissen Sie eigentlich, wer ich bin?").
Die viel gepriesene Humanität, vor allem der späten Opern Janáčeks, erscheint laut Saremba als möglicherweise opportunistisch motiviert. "Ehrlich" hingegen war seine ebenfalls in vielen Werken manifest gewordene Naturliebe. Hinsichtlich dieses Punktes ist es zu bedauern, dass er heute nicht unter uns ist: Auf seine Wutausbrüche anlässlich der heutigen Naturzerstörung, der die Wälder "seiner" Mährisch-Schlesischen Beskiden, anlässlich der Präpotenz der heutigen "Wirtschaft", die, von kaum jemand bemängelt, Flugstraßen und damit dröhnenden Lärm und Gift über die entlegensten und bisher ruhigsten Winkel legt, wäre ich neugierig... Keinen hinreichend prominenten Musiker von heute stört offenbar der völlige Verlust der Stille.
Sarembas Buch nun gibt einen umfassenden und leicht lesbaren Überblick über Leben und Werk Janáčeks. Im Gegensatz zu Vogel (dessen Verkennung der Unverschämtheit Janáceks geradezu groteske Züge annimmt, etwa wenn er das Verhalten des Ehemannes der von Janáček heftig umworbenen Kamila Stösslová folgendermassen beschrieb: "Nach drei Tagen zog sich David Stössel taktvoll zurück...") und anderen früheren tschechischen Autoren, die zu sehr zur Verherrlichung neigten, wahrt er kritische Distanz, berichtet von Bewundernswertem wie auch von Verabscheuungswürdigem, beschönigt nichts, bleibt stets objektiv. Der Leser erfährt Wissenswertes über Janáčeks Kindheit im nordmährischen Beskidenvorland; über seine Ausbildung und seine Studien in Brünn, Leipzig und Wien; über die Herausbildung seines nationalen Fanatismus und die nicht zuletzt dadurch sich immer mehr zerrüttende Ehe mit seiner unglücklichen Kindfrau Zdenka; über sein perfides Betragen gegenüber seinen Schwiegereltern; über seine Liebschaften und seine im Alter, also als bláznivý dědeček = "närrischer Großvater", wie man im Tschechischen treffend sagt, entflammte, aber vergebliche, weil nicht erhörte Leidenschaft für Kamila Stösslová, eine äußerst skurrile - weil nicht zustandegekommene - "Affaire", die sich dennoch über zehn Jahre erstreckte und die letztendlich auch kausal für seinen Tod war; über die geisteswissenschaftlichen Hintergründe, über theoretische Schriften und natürlich nicht zuletzt über die Musik dieses Genies. Hierin erweist sich das Buch als sehr sinnvoll gegliedert: Die Abschnitte, welche die musikalische Seite behandeln, befinden sich als abgeschlossene Beiträge jeweils am Ende eines Großkapitels und können von an rein musikalisch- technischen Belangen nicht interessierten Leser ohneweiters übersprungen werden. Diese Kapitel folgen einem Wort Alban Bergs, wonach eine partielle Genauigkeit einer generellen Ungenauigkeit vorzuziehen sei. Folkloristische Herkunft des musikalischen Materials und sogenannte "Sprachmelodie", beides Hauptkennzeichen für Janáčeks Personalstil, sind bevorzugte Aspekte der musikalischen Betrachtung.
Als einziges Manko erscheint der Umstand, dass das Buch keinerlei Informationen über den Autor bereithält. Wer ist Meinhard Saremba, ist er vielleicht auch aus Mähren gebürtig, wie erklärt sich sein Bezug zu Musik im allgemeinen und zu Janácek im besonderen? Diese Fragen bleiben leider ungeklärt.
Kurz und gut: ein empfehlenswertes Buch, hervorragend geeignet für Janáček- Liebhaber, bzw als Anregung für solche, die es werden wollen.
(Franz Lechner; 04/2002)
Meinhard Saremba: "Leo
Janáček. Zeit - Leben - Werk - Wirkung"
Bärenreiter, 2001.
464 Seiten.
ISBN 3-7618-1500-X.
ca. EUR 46,-.
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