José Saramago: "Die Stadt der Sehenden"
Demokratie
ist wenn
In der Übersetzung aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis
liegt dieser Roman aus dem Jahr 2004 vom
Literaturnobelpreisträger 1998 und Moralisten Saramago (Jg.
1922) nun vor. Gewissermaßen als Weiterführung aber
auch als Gegenstück zu "Die Stadt der Blinden" (1995/97). In
diesem Roman wurde eine ganze Stadt von der sogenannten
"weißen Blindheit" befallen - das Nichtsehen ist
nämlich nicht schwarz, sondern von blendender Grellheit. Die
Regierung hält es für eine Epidemie und steckt die
Einwohner in ein ehemaliges Irrenhaus in Quarantäne, wo
Demütigungen und Gewalt praktiziert werden. Allein eine Frau
blieb sehend und widersetzte sich der Eskalation durch einen Mord. Am
Ende erhalten alle ihr Augenlicht wieder. Man kann Saramagos Romane als
Parabeln oder auch als Allegorien auf gesellschaftliche
Missstände lesen. War die "Stadt der Blinden" noch quasi ein
philosophischer Roman, der hinter die kultivierte Fassade blickte, so
erscheint die "Stadt der Sehenden" als radikal politische Parabel
über die Brüchigkeit der Demokratie.
Saramago erklärte in einem Interview (WDR April 2006), die
Demokratie funktioniere nur scheinbar, nur formell. Die Regierungen
seien nämlich ohnehin nur politische Kommissare der
wirtschaftlichen Macht. Er zeigt, wie schnell sich eine Demokratie in
eine Diktatur verwandeln könnte - u.a. eben auch durch
Ratlosigkeit der angeblichen Machthaber! Erstaunlich ist allerdings,
dass in der "Stadt der Sehenden" keine Anarchie ausbricht - es herrscht
vielmehr Solidarität. Saramago selbst meint, dies sei ein
realistischer Roman über die Klarheit, eigentlich eine
Reflexion, eine Analyse. Und er ergänzt: "Ich möchte
die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass das demokratische System nicht
richtig funktioniert. Ich weiß nicht, wie es besser gehen
kann. Ich weiß nicht, wie man die Welt retten kann. Ich
weiß nur, dass sie krank ist" (vgl. ebd.).
Der Handlungsrahmen ist eigentlich schlicht: Bei einer Regionalwahl
geben drei Viertel der Bürger einen leeren Stimmzettel ab, bei
der eiligst anberaumten Wahlwiederholung sind es gar über 80
Prozent. Die Regierung gerät in Panik, sieht dieses Verhalten
als Anschlag auf die Demokratie, und sie lässt Panzer
auffahren. Spione werden ausgesandt, Leute werden mit
Lügendetektor verhört, ein Kommissar soll ermitteln.
Als man keine Aufklärung bekommt, wird der Belagerungszustand
ausgerufen, um die Bewohner einzuschüchtern. Da die Regierung
aber auch keine weiteren Gewaltmaßnahmen gegen die
Bevölkerung ergreifen will, flüchtet sie aus der
Stadt in der Hoffnung, dass die Leute sie vermissen werden. Und hier
kippt die Parabel eigentlich in eine Satire!
Der Erzähler ist im Kern ein auktorialer, er wendet sich z.B.
an den "eher anspruchsvollen Leser" um einzugestehen, dass es eine "zum
Teil recht langsam sich entfaltende Handlung" sei.
Schließlich explodiert im Bahnhof eine Bombe, und es gibt
Tote. Auf die satirische Ebene gehört wohl auch, dass die
Minister immer wieder stundenlang beraten und zwischendurch einer eine
Rede im Fernsehen hält, ohne dass sich die Situation
ändert. Eine irritierende Pointe ist das Auftauchen der Frau
des Apothekers aus der "Stadt der Blinden", die als Einzige "vor vier
Jahren" sehend geblieben war und gegen die nun wegen des Mordes damals
ermittelt werden soll. Freilich muss dem Kommissar auch klar sein, dass
diese Frau für die "Weißwähler" nicht
verantwortlich sein kann. Nach zahlreichen lächerlichen
Handlungssequenzen wird der Kommissar von einem Heckenschützen
erschossen. Die Frau des Apothekers ebenso.
Das Problem ist damit keineswegs gelöst. Die Politparabel ist
über die Satire zum Krimi verflacht. Saramago hätte
z.B. zwei Kapitel früher abbrechen sollen. Die Grundidee ist
gut, die Kraft bei der Durchführung lässt (bei beiden
"Stadt"-Romanen!) zusehends nach.
(KS; 04/2006)
José
Saramago: "Die Stadt der Sehenden"
(Originaltitel "Ensaio sobre a lucidez")
Deutsch von Marianne Gareis
Rowohlt, 2006. 384 Seiten.
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Zwei weitere Bücher von Saramago:
"Die Stadt
der Blinden"
Eine Ampel in einer namenlosen Stadt springt auf Grün. Ein
Auto bleibt dennoch stehen. Der Fahrer ist urplötzlich
erblindet. Den freundlichen Helfer, der den Erblindeten nach Hause
bringt und sich anschließend dessen Autos
bemächtigt, ereilt das gleiche Schicksal. Wie eine Epidemie
greift die Blindheit um sich. Der Staat reagiert brutal. Die
Erblindeten werden in einem leerstehenden Irrenhaus
interniert, wo sie sich selbst überlassen werden. Doch es gibt
eine Sehende unter ihnen, die die
Krankheit
nur vorgetäuscht hat, um bei ihrem Mann zu bleiben. Mit ihrer
Hilfe könnte der Ausbruch gelingen ... (Rowohlt)
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"Kain"
Das Vermächtnis des
Nobelpreisträgers
José Saramago war bekennender
Atheist und eckte regelmäßig bei der katholischen
Kirche an. In seinem letzten Roman schreibt er die Bibel kurzerhand um
und lässt den Brudermörder
Kain eine ganz eigene Reise durch das Alte Testament
antreten. Mit Fantasie, Ironie und einem Schuss Boshaftigkeit
führt der große Romancier die göttliche
Allmacht ad absurdum.
"Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte ihrer
Uneinigkeit mit Gott,
weder versteht er uns, noch verstehen wir ihn",
heißt es in Saramgos "Kain", und es könnte das Motto
des Buches sein. Saramago schickt seinen Kain an die
unterschiedlichsten Schauplätze des Alten Testaments und
lässt ihn aktiv an den biblischen Episoden teilhaben. So ist
Kain dabei, als Abraham aufgefordert wird, seinen Sohn Isaak zu opfern,
wobei er ihm überzeugend die Unsinnigkeit dieses Unternehmens
vor Augen führt und Schlimmeres abwendet. Er interpretiert auf
seine Weise die Zerstörung von Sodom und Gomorrha, ist
fassungslos angesichts der
Babel'schen Sprachverwirrung und findet sich
am Ende auf der Arche Noah wieder.
José Saramago, geboren am 16. November 1922 in Azinhaga in
der portugiesischen Provinz Ribatejo, entstammte einer
Landarbeiterfamilie. Nach dem Besuch des Gymnasiums arbeitete er als
Maschinenschlosser, technischer Zeichner und Angestellter.
Später war er Mitarbeiter eines Verlags und Journalist bei
verschiedenen Lissabonner Tageszeitungen. Ab 1966 widmete er sich
verstärkt der Schriftstellerei.
Während der
Salazar-Diktatur gehörte er zur Opposition. Der Romancier,
Erzähler, Lyriker, Dramatiker und Essayist erhielt 1998
den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 18. Juni
2010 auf Lanzarote.
Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt "Die
Reise des Elefanten", "Das Tagebuch" (beide 2010) und der
Gedichtband "Über die Liebe und das Meer" (2011).
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