José Saramago: "Der Doppelgänger"
Ich glaube immer noch, dass du diese verdammte Geschichte mit diesen Doppelgängern, Zwillingen und Duplikaten beenden solltest, Vielleicht sollte ich das, aber ich schaffe es nicht, sie ist stärker als ich, Mir kommt es vor, als hättest du eine Mühle in Gang gesetzt, die dich langsam zermalmt, warnte der gesunde Menschenverstand, ...
(Auszug aus "Der Doppelgänger")
Probleme mit der
Identität
Tertuliano Máximo Afonso, achtunddreißigjähriger
Geschichtslehrer an einem Gymnasium, lebt seit sechs Jahren, seit der Scheidung
von seiner Frau, allein. Er wohnt in einer Großstadt und hat keine Kinder. Seine
Freundin, die Bankangestellte Maria da Paz, bedeutet ihm nicht viel. Schulalltag
und Privatleben haben ihn desillusioniert und er neigt zu
Depressionen.
Seine angespannte psychische Situation bleibt dem
aufmerksamen Umfeld nicht verborgen und so empfiehlt ihm ein Freund aus dem
Lehrerkollegium, ein Mathematiklehrer, sich zur Ablenkung den Videofilm "Wer
Streitet, Tötet, Jagd" anzuschauen. Afonso besorgt sich den Film mit dem
seltsamen Titel aus einer Videothek. Der Film, eine Komödie, gefällt ihm nicht
und er schaut ihn sich gelangweilt an. Seine Aufmerksamkeit wird erst geweckt,
als er in einer Szene einen Nebendarsteller entdeckt, einen Hotelangestellten,
der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht. Fassungslos spult er den Film zurück und
schaut sich die Szene erneut an.
Der Mathematiklehrer, dem diese
Besonderheit des Films bekannt war, hat sein Ziel erreicht. Im Geheimen wird
Afonso aktiv und besorgt sich alle Filme der betreffenden Produktionsfirma, um
den Namen seines Doppelgängers ermitteln zu können. Nach einigen Tagen
intensiver Recherche gelingt ihm das auch. Es handelt sich um den Schauspieler
António Claro, der in einem ihm unbekannten Stadtviertel weit entfernt vom
Zentrum der Metropole wohnt. Seine Freundin Maria da Paz spannt Afonso zwar in
seine Ermittlungen ein, lässt sie aber hinsichtlich der Hintergründe im
Unklaren.
Afonso besorgt sich die Telefonnummer und ruft bei dem
Schauspieler António Claro an. Es meldet sich dessen Ehefrau Helena, die wegen
der gleich klingenden Stimme zunächst an einen Scherz ihres Ehemanns glaubt.
António, den er später telefonisch erreicht, lässt sich nicht überzeugen und ist
ungehalten über den Anruf. Aber die Büchse der
Pandora ist geöffnet. António
ruft zurück und sie vereinbaren ein geheimes Treffen. Die perfekte äußerliche
Übereinstimmung überrascht beide. Wer ist das Original und wer die Kopie? Sie
stellen fest, dass António eine halbe Stunde älter ist als Tertuliano Máximo.
Nach einem längeren Gespräch, das nicht frei ist von gegenseitigen
Provokationen, vereinbaren sie, sich nicht wieder zu treffen.
Diesmal ist
es António Claro, der sich in das Leben von Tertuliano Máximo Afonso einmischt.
Er zieht Erkundigungen ein über dessen Freundin Maria. Anschließend sucht er ihn
auf und erpresst ihn. Da António Claro sich in dieser Situation als der Stärkere
erweist, muss Afonso auf dessen verwegenen unmoralischen Vorschlag eingehen.
Nach dem Motto "Es kann nur einen geben" spitzt sich die Situation
zu.
Auffallend ist Saramagos individueller Schreibstil. So verwendet er
keine Anführungszeichen für die wörtliche Rede, sondern trennt Dialoge mit
Beistrichen. Die jeweils folgende wörtliche Rede beginnt wieder mit
Großbuchstaben. Eine weitere persönliche Note verleiht Saramago dem Roman durch
die immer wieder eingeschobenen Zwiesprachen mit dem "gesunden
Menschenverstand".
Dem wissenschaftlich interessierten Leser bleibt
Saramago die entscheidende Antwort schuldig, "wie" die Verdoppelung zustande
gekommen ist. Er thematisiert ausschließlich deren Auswirkungen. Da die
biologischen Ursachen verborgen bleiben, darf sich der Leser wohl darüber
wundern, warum beide Protagonisten an der gleichen Stelle eine Narbe haben - die
Antwort bleibt im Dunkeln.
Für eine reale Geschichte fehlen die
Hintergründe bzw. der Versuch diese aufzuklären. Andererseits werden einige
Nebensächlichkeiten (Afonsos Unzufriedenheit mit seinem ersten Vornamen, die
Untersuchung der Videos, Afonsos Erlebnisse in der Videothek u.a.m.) lang und
breit thematisiert. Könnte es sein, dass es Saramago nicht (nur) um die
Rahmenhandlung geht, sondern er parallel die Geschichte von Afonsos psychischer
Zerrissenheit erzählt? Der Roman ist voller
Symbole, die eine solche Deutung
zulassen. Hierzu passt auch sein belächelter Vorschlag im Lehrerkollegium, die
Geschichte rückwärts zu lehren.
Die Andersartigkeit und Vieldeutigkeit
verleihen Saramagos Roman "Der Doppelgänger" eine besondere Atmosphäre und
machen ihn zu einem Leseerlebnis der besonderen Art.
(Klemens Taplan; 07/2004)
José Saramago: "Der
Doppelgänger"
(Originaltitel "O homem duplicado")
Übersetzt von
Marianne Gareis.
Rowohlt, 2004. 384 Seiten.
ISBN
3-498-06373-1.
ca. EUR 23,60.
Buch bei amazon.de
bestellen
José Saramago wurde am 16. November
1922 in dem Dorf Azinhaga im portugiesischen Ribatejo in eine
Landarbeiterfamilie geboren. Als er zwei Jahre alt war, zog die Familie nach
Lissabon um. Aus finanziellen Gründen erfolgte der Wechsel vom Gymnasium auf
eine berufliche Schule, die er 1939 als Maschinenschlosser verließ. Anschließend
war José Saramago zwei Jahre lang in diesem Beruf in einem Krankenhaus tätig,
danach in der Verwaltung. Ab Mitte der 1950er-Jahre folgten Veröffentlichungen.
1969 trat er in die (verbotene) kommunistische Partei ein und unternahm seine
erste Auslandsreise nach Paris. Ab 1968 war José Saramago bei verschiedenen
Zeitungen und Zeitschriften tätig.
Nach der "Nelkenrevolution" 1974 arbeitete
er im Ministerium für Kommunikation. Von 1975 bis 1980 verdiente er seinen
Lebensunterhalt hauptsächlich als Übersetzer. 1986 sprach sich Saramago gegen
den Beitritt Spaniens und Portugals in die Europäische Union und für eine
Unabhängigkeit der Iberischen Halbinsel aus.
José Saramago war Mitglied des
Ordens Militar de Santiago de Espada (Portugal) und des Ordre des Arts et
Lettres (Frankreich) sowie Ehrendoktor der Universitäten Turin, Sevilla und
Manchester. Seine Werke sind in 26 Sprachen übersetzt.
Auszeichnungen: Prémio da Associação de Crítícos Portugueses (1979); Prémio
Cicade de Lisboa für "Hoffnung im Alentejo" (1980); Prémio Literário Município
de Lisboa für "Das Memorial" (1982); Prémio da Crítica da Associação Portuguesa
de Crítícos (Prémio D. Dinis) für "Das Todesjahr des Ricardo Reis" (1986); Premio
Internazoniale Ennio Flaiano (Italien) (1992);
Nobelpreis
für Literatur (1998).
José Saramago starb im Alter von 87 Jahren am 18. Juni 2010 auf Lanzarote.
Ergänzende Buchempfehlung:
"Die portugiesische
Reise"
"Reisen ist eher eine Sache des Bewusstseins als der
Fortbewegung", sagt sich José Saramago, als er sich in seinem betagten Auto und
mit dem unschuldigen Blick eines Fremden aufmacht zu einer mehrmonatigen Fahrt
durch seine Heimat Portugal: von Nord nach Süd, von Ost nach West. Wo immer er
hinkommt, spürt er in sich jenen Einklang - allerdings auch so manchen Missklang
-, der ihn mit seinem Land und seinen Menschen verbindet. Er besucht das
Bekannte, aber auch das Entlegene, Versteckte. Und sehr genau, ja penibel
beobachtet er: eine steile Bergfeste, eine verstaubte Kapelle am Wegesrand oder
ein Stadtpalais. Was immer er ansieht - er quillt über vor Wissen über
Geschichte und Kultur, vor Erinnerungen an Könige, Krieger, Maler, Entdecker,
Schriftsteller, Heilige und Sünder. Als Leser und Portugal-Liebhaber kann man
sich auf dieser ausgedehnten Reise keinen anregenderen und vergnüglicheren
Begleiter als José Saramago wünschen: einen sachkundigen Führer und hoch
gebildeten Kenner, der uns die verborgenen Schätze seines Landes abseits der
geläufigen Touristenrouten erschließt.
Buch bestellen