Iván Sándor: "Geliebte Liv"


Liebe - aber nicht nur ...

Aus Iván Sándors Roman kann man vieles erfahrenen, zum Beispiel die Geschichte Ostmitteleuropas, vor allem Ungarns in den Jahren 1944 (deutsche Besetzung), 1956 (Aufstand), 1968 (Prager Frühling) und um 2000; man kann wunderbare Beschreibungen von Budapester Cafés, Pariser Parks, Salzburger Straßenzügen und einigen anderen Orten genießen; und man kann eine Geschichte von Liebe, Treue, Leidenschaft, Untreue und unentrinnbaren Schicksalen lesen.
"Ja, das ist eine Liebesgeschichte, aber wäre sie nur das, hätte ich sie nicht geschrieben", schreibt der 76-jährige Autor Iván Sándor, hoch ausgezeichneter - aber bisher wenig übersetzter - ungarischer Romancier, Dramatiker und Essayist auf der Außenseite des Buches.

Liv ist die Tochter einer Jüdin aus Kecskemét, die sich nach der Vernichtung ihrer Familie und nach dem Krieg in Paris niederließ. Der Ich-Erzähler Zoltán, ein junger Dramaturgiestudent aus Budapest, lernt die angehende Schauspielerin Liv Ende der Fünfzigerjahre während des Gastspiels einer kleinen Budapester Theatergruppe in der französischen Hautstadt kennen. Sie aber hat schon einen Freund, Gábor, der sich als Student dem ungarischen Volksaufstand anschloss und emigrieren musste. Liv übergibt Zoltán Gábors Tagebuch, er soll es nach Ungarn bringen. Doch Grenzwachebeamte entdecken die politisch brisanten Aufzeichnungen ... Zoltán wird überwacht und darf einige Jahre lang nicht mehr ins Ausland reisen. Doch auch Gábor bleibt nicht in Livs Nähe; er arbeitet als Techniker in Algier. Das Liebesdreieck entfaltet sich über vier Jahrzehnte in Briefen, Telegrammen, Tagebucheintragungen, bei Reisen zwischen Frankreich und Budapest, später auch in Nachrichten auf dem Anrufbeantworter.

Geliebte Liv ist ein polyphoner, kunstvoll komponierter, aber nicht immer leicht lesbarer Roman, der Trauma und Träume mehrerer Generationen im Rückblick, in unterschiedlichen Zeitebenen und im Wechsel zwischen Erzählung, innerem Monolog, Briefen und Tagebucheintragungen miteinander verknüpft. Es ist auch ein sehr theatralisches Buch, sowohl buchstäblich, da es im Theatermilieu spielt, als auch im übertragenen Sinne: Das Leben ist eine Abfolge von Rollenspiel und Rollenwechsel, von Maskerade und Melodramatik. Zoltán, Sohn eines bekannten Regisseurs, der 1944 Selbstmord beging, betrachtet die Welt wie das Geschehen auf einer Bühne. Nicht die Frage, ob das Drama wahr oder falsch ist, bestimmt den Verlauf seines Lebens, sondern das Zusammenspiel der Rollen, auch jener, die erst in den Gedanken der Zuschauer und Leser entstehen. Zoltán weiß nicht, wann der Vorhang fallen wird, er weiß auch nicht, hinter welchem "Schauspiel" sich Geheimdienstaktivitäten verbergen. Vermutete und tatsächliche Bespitzelung setzt schließlich jede Argumentation über "wahr" und "falsch" außer Kraft. Gábor hingegen schreibt beständig in seinen Tagebüchern, verändert sie auch nachträglich. Die Subjektivität wird zur paradoxen Konstante seiner Vergangenheit, bis ihm die Geschehnisse in seiner verlorenen Heimat letztlich entgleiten.

Den Roman belebt eine radikal subjektive Sicht. Die Figuren kommunizieren, ohne zu wissen, was eigentlich mit ihnen geschieht, weder in persönlichen Beziehungen noch in den "großen" historischen Momenten. Der Verlauf der Welt ist anders, als wir glauben, so wie die Wege der Liebe.

(Wolfgang Moser; 11/2006)


Iván Sándor: "Geliebte Liv"
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó.
dtv premium, 2006. 357 Seiten.
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Iván Sándor, geboren 1930, gehört zu den renommiertesten Schriftstellern Ungarns. Von 1990 bis 2004 war er Präsident des ungarischen Schriftstellerverbandes. Sein umfangreiches Werk wurde vielfach ausgezeichnet.

Lien: Interview mit Iván Sándor über seinen Roman "Spurensuche"