"Niki de Saint Phalle - La Grotte"

"Ich wollte zeigen. Ich wollte alles zeigen. Mein Herz, meine Gefühle. Grün. Rot. Blau. Violett. Hass, Liebe, Lachen, Angst, Zärtlichkeit."

(Aus einem Brief Niki de Saint Phalles)


Niki de Saint Phalle, das zur Künstlerin gewandelte ehemalige Fotomodell, ist sich der Macht augenfälliger Reize seit jeher bewusst gewesen. Was gefällt, das erfreut. Und was erfreut, das gewinnt. Ein kokettes Lebensprinzip, so von ihr selbst niemals geäußert und doch selbstverkörpert in Gestalt ihrer Fraulichkeit, die für einen opulenten Begriff von Schönheit lebte, welche Kunst als ein verführerisches Spiel mit schrillen Farben und prallen Formen betrieb und deren bleibender Verdienst es wohl sein wird, ein wenig betörende Magie in die knarrende Maschinenwelt der Männer eingebracht zu haben. Saint Phalles Vermächtnis ist ein bunter Tupfen, frech hineingepatzt in das Grau alltäglicher Asphaltwelten. Ein verträumtes Märchen in Gefilden, wo sonst nur zweckrationales Handeln die Tagesordnung bestimmt und aller Eros längst entschwunden ist. Ihr letzter Akt war "La Grotte", so genannt als künstlerische Ausgestaltung einer Grotte im Ensemble eines barocken Schlossgartens.

Die Formensprache der im Frühjahr 2002 verstorbenen Künstlerin war im höchsten Maße feminin, zuweilen gar obszön, wenn man an einige ihrer wohlproportionierten "Nanas" denkt, welche als zu Spielzeugtypen stilisierte Freudenmädchen ebenso gut dem Puppenzimmer einer ausgewachsenen, wenn auch etwas verdorbenen, Kindfrau entnommen sein könnten. Sinnenfroh und erotisch stellt sich das Lebenswerk dar, ganz ohne Scheu, über die Inszenierung von soviel Licht- und Farbbewegung, sich gar selbst noch in die Nesseln einer Kitschdebatte zu setzen.

"Niki de Saint Phalle - La Grotte" ist eine posthume Liebeserklärung einer Gruppe von Menschen, denen es vergönnt war, an der Verwirklichung von Nikis letztem Kunstwerk "La Grotte" aktiv teilzuhaben, Kunstfreunden und Künstlern, die mit ihr gemeinsam die historische Grotte im "Großen Garten" zu Herrenhausen bei Hannover künstlerisch ausgestalten durften. Wie der Titel schon verrät, handelt es sich hierbei nicht nur um die Entstehungsgeschichte von "La Grotte" und um deren bildprächtige Präsentation, sondern überhaupt um eine gleichermaßen sensible wie sinnenfreudige Annäherung an das Kunstschaffen von Niki de Saint Phalle.

Kunst in vorgegebene Alltagsräume hinein zu intervenieren, Kunst begehbar zu machen, war lange schon ein zentrales Anliegen von Niki de Saint Phalle, weshalb sie sich in ihrem Schaffen immer mehr den begehbaren Figuren, Skulpturen, Architekturen, Höfen und Grotten zuwandte und solcherart wohl auch der sterilen Aufgeräumtheit von Bildergalerien entfloh. Ihrem Begriff von Feminismus folgend wollte sie die von Männern so zweckmäßig eingerichtete - technisch bestimmte - Alltagswelt über dekorative Eingriffe in eine freundlichere, Herz und Seele gleichermaßen erwärmende, Erlebniswelt verwandeln. Eine mehr abgerundete, buntere, sinnenfreudigere und schlussendlich weiblichere Welt sollte es werden, die nicht nur nach Prinzipien männlicher Verfahrenslogik funktioniert, sondern über die Erfahrung von sinnlich vermittelter Lebensfreude einen Lebenssinn jenseits von zweckrationalen Verhaltensmustern erfahrbar macht.

Darin enthalten ist eine eminent ökologische Botschaft, die in ihrem künstlerischen Ausdruck der Verhässlichung von Kultur- und Naturräumen eine politische Abwehrgebärde entgegensetzt. Ist doch die optische Umweltverschmutzung die schlimmste Pest unserer Tage. Immer und überall scheint die Abwesenheit von Schönheit manifest, doch fast niemand bemerkt diesen Mangel.

Wer nun heute "La Grotte" betritt, wird sich in ein von Lichtern funkelndes und farbberauschtes Märchenland entrückt wähnen. Weibliche und heidnische Symbole, glänzend grellbunte "Nanas" mit prallen lockenden Leibesformen, paradiesische Lichtreflexe, Blumen, Skelette, die Mystik des tiefen Blaus, jawohl, das Wunder von "La Grotte" ist nun auch Bild, weil Buch geworden, lässt sich aus der Ferne bestaunen, Lebenstraum und Grottenzauber in einem. Ein fantastischer Grottenzauber übrigens, der sich der Regie Niki de Saint Phalles und dem Raffinement des Glasmosaiks verdankt, eine den Sehsinn verwöhnende Technik, die in "La Grotte" zu virtuoser Vollendung geführt wurde und eine glitzernde Ornamentik ermöglichte, die, über drei Räume erstreckt, Einheit und Wechselseitigkeit von Spiritualität, Tag und Nacht, Leben und Kosmos thematisiert.

Es muss ein einzigartiges Erlebnis sein, diesen Ort der Verzauberung zu durchschreiten. Der vorliegende Bildband vermittelt eine erste doch eindrückliche Ahnung davon, betört und lockt, verführt und verwöhnt nicht nur das Auge des Betrachters, sondern erregt dessen Kunstsinn, sich weiter und mehr auf das strahlkräftige Werk eines Künstlerlebens einzulassen, das sich in seiner ganzen unverschämten Menschlichkeit entäußern wollte und von einem unendlichen Bedürfnis nach Schönheit erfüllt war. Eine Schönheit, die dem wachsamen Empfinden immer noch allerorts abgeht, eine Schönheit, die leider beispielhaft, aber noch lange nicht allgemein ist.

(Harald S.; 05/2003)


"Niki de Saint Phalle - La Grotte"
Hrsg. Landeshauptstadt Hannover, Sprengel Museum Hannover. 
Texte von Ulrich Krempel, Ursula Bode, 
Ronald Clark/Birgit Heidrich-Peiers, Pierre Marie Lejeune, Hans-Georg Preißel.
Hatje Cantz, 2003. 104 Seiten, 105 Abbildungen.
ISBN 3-
7757-1308-5.
ca. EUR 16,80.
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Webtipp:
https://www.nikidesaintphalle.de/