"Sagen aus Oberösterreich" (Hrsg. Erich Weidinger)
Es kennt Land und Leute erst, wer Zugang zu
ihren Mythen gefunden hat. Oberösterreich hat sich bis heute einen reichhaltigen
Sagenschatz in lebendiger Erinnerung bewahrt, mit Verknüpfungspunkten zu regionalen
Besonderheiten und Traditionen, der uns in faszinierender Weise ein Stimmungsbild
mittelalterlicher Volkspoesie vergegenwärtigt. Dem angedeuteten Umstand der
Verortung von Volkspoesie in Gegenständen alltäglicher Lebenswirklichkeit wird
das vorliegende Buch mittels einer ausführlichen Kartographierung mythischer
Bezugspunkte gerecht. Und so mag sich der geneigte Leser gar noch aufraffen
um mit diesem Buch in der Tasche fantastische Sagenwelten zu bereisen und um
selbst zu erleben, was der Herausgeber des Buches persönlich vor Ort recherchiert
und neu aufgearbeitet hat. Oberösterreich, dessen besonderer Reiz für mich im
Beieinander von hochalpiner Erhabenheit nebst melancholischer Anmut des Mühlviertels
und matter Geruhsamkeit der flachen Landesteile besteht, ladet jedenfalls zu
erquicklichen Wandertouren ein, die über das Verständnis alter Volkserzählungen
wohl ganz gewiss an Gehalt noch gewinnen mögen. Natürlich vermittelt Sage gar
selten Wahrheiten oder Tatsachen und nur zu oft kultivierte sie volkstümliche
Irrtümer und finsteren Aberglauben (Teufelsfurcht), verharmlost und rechtfertigt
wahnhafte Vorstellungen (Hexenwahn), bestätigt angemaßte Herrschaftsverhältnisse
durch gehörige Huldigung des vorgeblich Selbstverständlichen (Adelsherrschaft)
und verschleiert die tatsächliche Herkunft von Namen und sonstigen Begriffen,
wie es uns die Etymologie, die Wissenschaft von der Herkunft der Worte, lehrt.
So leitet sich in etwa der Name der Landeshauptstadt Linz
vom ursprünglich keltischen Wort "lentos" ab, was so viel wie biegsam oder gekrümmt
bedeutet und sich konkret auf die Biegung des Flusses Donau
bezieht, der bei Linz eine starke Krümmung macht. Nichtsdestotrotz behauptet
die Sage eine Namensgebung durch den Herzog Tassilo von Bayern, welcher anno
784 n. Chr. sich mit der erfolglosen Belagerung einer Siedlung an der Donau
abplagte, dann wohl schlecht geschlafen haben muss und im Traum genauso erfolglos
einen Luchs jagte. Am nächstfolgenden Tage brach Tassilo die Belagerung ab und
rief beim Abzug laut: "Hinfüro sollst du Aurelium Lynx heißen". So war´s natürlich
nicht, doch so könnte es mit einiger Fantasie gewesen sein. Ist doch die Sagenwelt
mehr die Wiederspiegelung von Möglichem, gar Fantastischem, doch kaum einmal
korrekte Berichterstattung von tatsächlich Geschehenem. Wenn leibverlassene
Stimmen über Gewässern schweben und ihr Flüstern Unheil verkündet, wenn der
um eine Seele betrogene Teufel im Zorn eine Stadt ein- oder abzumauern versucht
und das dreimalige Krähen eines Hahns gereicht sein Werk zu vereiteln, so befinden
wir uns im Reich volkstümlicher Mythenbildung; ein Ausdruck kollektiver Schaffenskraft,
wie sie dem Sinn einer entzauberten Welt nicht fremder sein kann. Antworten
auf Fragen des Daseins geben dem Gegenwartsmenschen die Wissenschaften und Fantastisches
entspringt nicht in den Tiefen seiner Seele, sondern vielmehr in den Produktionsstudien
der Fantasie-Industrie, die heute in opulenten Bilderfluten zitiert und vermarktet,
was einst dem Volkskörper entspross. Wer nun der Anleitung des Buches folgend
seinen Ranzen schnürt und sich ins Mühlviertel oder sonst wohin ins Oberösterreichische
begibt, um sagenumwobene Orte wie die Gemeinde Berg bei Rohrbach und die Gemeinde
Auberg bei Haslach aufzusuchen, wo der Mähr nach einst überall der Teufel sein
Unwesen trieb, der begibt sich solcherart auf eine Reise in die versunkene Welt
von Gestern, die sich in der Überlieferung als magische Weltanschauung einfacher
Gemüter bekundet. Keineswegs ist es uns heutigen kritischen Vernunftmenschen
noch möglich, das magische Denken der Ahnen auch nur annähernd nachzuempfinden.
Doch gewinnt selbst das sterile Gemüt des modernen Menschen eine Ahnung von
der Verwunschenheit des Hallstätter Gletschers, wenn er die Sage vom Dachsteinkönig
erst einmal vernommen hat, welcher die allzu üppigen Almwirtschaften dieser
Gegend im Zorn über deren Arroganz mit dem Fluch ewiger Vereisung belegte: "Auf
dieser schönen Höh, soll fallen großer Schnee und aper wird's dann nimmermehr!"
- so sprach er einst und nur der Klimawandel unserer Tage droht seinem Fluch
ein Ende zu setzen, denn der Gletscher schmilzt im erwärmten Erdklima.
"Sagen aus Oberösterreich" ist beste Heimatkunde, die in keinem oberösterreichischen
Haushalt mit Liebe zur näheren Heimat fehlen sollte, wie auch jedem Liebhaber
dieses - wegen seiner Vielfalt und Gegensätzlichkeiten - vielleicht reizvollsten
aller österreichischen Bundeslander diese Sammlung von oberösterreichischen
Volksmythen jedenfalls empfohlen sei. Wer sich hingegen blumig ausgeschmückte
Sagenpracht erwartet, wird von den regelmäßig auf knappe Wiedergabe des Wesentlichen
und in einfacher Erzählsprache ausgeführten Abfassungen enttäuscht sein. "Sagen
aus Oberösterreich" will offenbar ins
Land hineinführen und nicht zum Verbleib in Bibliotheksräumen verleiten.
Selbst hinschauen und staunen, muss dann wohl die Devise lauten.
(Harald Schulz; 11. April 2002)
Erich
Weidinger: "Sagen aus Oberösterreich"
Ueberreuter,
2002.
261 Seiten.
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