Igor Sachnowski: "Die vitalen Bedürfnisse der Toten"
Chruschtschow
besticht Oma Rosa
Igor Sachnowskis Roman "Die vitalen Bedürfnisse der Toten" ist
ein im Russland der 1960er und 70er Jahre angesiedelter
Entwicklungsroman. Der Ich-Erzähler Goscha Sidelnikow ist ein
Egalkind und lebt fast ausschließlich bei seiner
Großmutter, welche auch nicht wesentlich mehr Beachtung
findet: "Einige Tage zuvor hatten sich Sidelnikows Eltern (ewig
beschäftigt wenn nicht mit ihrer Arbeit, dann mit der
Klärung ihrer charakterbedingt schwierigen Beziehung)
für kurze Zeit versöhnt, an den unbedarften Sohn
erinnert und Goscha sogar für einen Abend heimgeholt von Oma
Rosa, die für sie im Übrigen genauso ein Mondkalb war
wie er."
Oma Rosa ist die einzige Person, die ihm auf ihre schroffe Art
Zuneigung, Wärme und Geborgenheit gibt; doch weil ihn seine
Eltern so offensichtlich abweisen, versteht er ihre
Beweggründe nicht und glaubt an eine Verschwörung:
"... sie beklagte sich niemals über irgendetwas und sprach
überhaupt wenig. Am unbegreiflichsten war für mich
Rosas Beziehung zu mir, ihr wortlos gelassenes, beharrliches Umsorgen,
für das ich keine Erklärung fand. Ruhig und
gewissenhaft verfolgte sie mein Wohlergehen, sorgte dafür,
dass ich keinen einzigen falschen Schritt tat ... Plötzlich
überlief es mich heiß ... Die zufälligen
Worte 'verfolgte', 'sorgte dafür' verhakten sich in meinem
Kopf ... sie tat das im Auftrag ... Irgendwer hatte mich irgendwann
insgeheim als Werkzeug auserkoren. Und Rosa war beauftragt, mich zu
führen ..."
Dies ist natürlich völliger Blödsinn, ist
aber ein schönes Beispiel für die humorvolle Ader des
Autors. Diese zieht sich durch den gesamten Roman und findet auch
Ausdruck, wenn er Goschas Erfolgserlebnisse schildert: Mit 13 schrieb
er seinen ersten Roman in ein Schulheft. Nach wochenlanger Arbeit
reicht er ihn bei einer Zeitung ein - und wird publiziert.
Erwartungsvoll schlägt er die Zeitung auf, liest die ersten
Sätze und erstarrt. "Alles außer dem ersten Satz war
von jemand anderem geschrieben". Auf Grund seiner plötzlichen
Berühmtheit nimmt ihn nun auch seine Mutter wahr - allerdings
nur für drei Tage; danach ruft keiner mehr an, um der "stolzen
Mutter" zu ihrem Sohn zu gratulieren.
Wo ist die russische Seele?
In diesem liebenswert humorigen, leichten Stil ist der ganze Roman
gehalten. Sei es Regimekritik oder Alltag - nie wird der Ton scharf
oder anklagend und erinnert an "Der
Gitarrist" von Luis Landero. Dieser Roman spielt im Spanien
Francos und punktet mit feurigem Flamenco; "Die vitalen
Bedürfnisse der Toten" überzeugt durch die liebevolle
Zeichnung der häufig skurrilen Figuren sowie der leichthin
beschriebenen Lebensgewohnheiten und Ansichten des russischen Volkes.
Beispielsweise erzählt der Autor von einem Wachmann, der sich
für einen Frauenheld hält. Doch "keine Frau konnte
sich erwärmen für den Wachmann mit dem
Äußeren eines Schafs und dem Inneren eines
Schäfers."
Sachnowski begleitet Goscha von seiner Kindheit bis zum Studium. Dieser
wiederum wird von seiner
Oma begleitet - auch nach ihrem Tod.
Kurzerhand erscheint sie in Goschas Träumen; selbst der Tod
kann das innige Band zwischen den Beiden nicht zerreißen.
Dass diese Liebesgeschichte der anderen Art nicht ins
Melodramatisch-Kitschige abrutscht, liegt an den faszinierenden
Figuren, dem modern-gewöhnlichen Arbeiterklassenvokabular und
der Atmosphäre der Stadt am Ural - einer Mischung aus
zaristischem
St.
Petersburg und miefigem Mietskasernendunst. Haben es so
manche modernen slawischen Romane wegen ihrer - angeblich - typisch
russisch-melancholischen Note schwer, ein Publikum zu finden, besteht
bei "Die vitalen Bedürfnisse der Toten" diese Gefahr nicht.
Dieses lebensbejahende, fröhlich-ironische Buch passt
hervorragend zum neuen Russlandbild und zur Aufbruchstimmung in der
modernen russischen Literaturszene.
(Wolfgang Haan; 07/2006)
Igor
Sachnowski: "Die vitalen Bedürfnisse der Toten"
Aus dem Russischen übersetzt von Hannelore Umbreit.
Reclam Leipzig, 2006. 171 Seiten.
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Igor Sachnowski, geboren 1958 in Orsk/Ural, lebt als Literaturredakteur in Jekaterinburg. "Die vitalen Bedürfnisse der Toten" wurde 1999 in der renommierten Moskauer Literaturzeitschrift "Nowy mir" veröffentlicht.