Bianka Petrow-Ennker (Hrsg.): "Kultur in der Geschichte Russlands"


Differenzierte, auch auf den Laien zugeschnittene kulturhistorische Betrachtung

Wenn wir Westeuropäer von Europa sprechen, ziehen wir meistens intuitiv eine Grenze unmittelbar am östlichen Rand der zurzeit neusten EU-Mitgliedsländer. Russland, das doch westlich des Urals eine beträchtliche, aus geografischer Sicht eindeutig europäische Bevölkerung aufweist, bleibt üblicherweise außen vor.
Dies liegt nicht nur daran, dass uns Elemente der russischen Kultur fremd sind. Russland selbst betreibt seit Jahrhunderten einen eigenartigen Flirt mit dem Westen, einen Wechsel aus Annäherung und Abwehr, der sich nicht leicht nachvollziehen lässt. Schon allein aufgrund der Tatsache, dass Russland in der Weltpolitik kräftig mitmischt, sollte man sich jedoch mit diesem Land genauer befassen.
Das vorliegende Buch vermag einen Beitrag zum besseren Verständnis der russischen Kultur zu leisten. Es ist in fünf Teile gegliedert, die jeweils aus mehreren Arbeiten unterschiedlicher Verfasser bestehen und folgende Titel tragen:

      I. Raum-Denken: Prozesse der Wahrnehmung, Deutung und Erinnerung
      II. Vom Moskauer zum Petrinischen Reich: Anschluss an die westliche Welt durch neue mediale Strategien
      III. Russland im 19. Jahrhundert: Identitätskonstruktionen in der beginnenden Moderne
      IV. Lebensweltliche Perspektiven auf gesellschaftlichen Wandel
      V. Die Narrative der Macht und die Macht der Narrative

Im ersten Teil schildern drei Artikel die nationale Identitätsbildung in drei verschiedenen Kulturräumen: in der Ukraine, damals zum russischen Kernland gehörend, im überaus problematischen Kaukasien, wo diese erzwungene Identitätsbildung auch unter den restriktivsten Regimes scheiterte, und in Sibirien; der Beitrag zu diesem Thema befasst sich mit Museen Russlands, insbesondere solchen mit Schwerpunkt sibirische Kulturen.

Der zweite Teil stellt ein Russland des fortwährenden Wandels vor, dessen von der Orthodoxie geprägte Kultur durch das Aufkommen der Buchdruckkunst erschüttert wird, und das unter Peter dem Großen einen Ruck nach Westen vollzieht, dem man später wieder entgegensteuert. Man könnte den dritten Teil als die logische Fortsetzung bezeichnen, lernt der Leser doch auch hier das Wechselspiel zwischen Selbstbezogenheit und Öffnung nach außen kennen, etwa anhand der Geschichte des Duells, das nicht nur aufgrund des tragischen Todes von Puschkin eine Auseinandersetzung mit dem Ehrbegriff in verschiedenen Ländern provoziert; auch Themen wie die Bedeutung der Stadt als Symbol werden in diesem Abschnitt untersucht.

Fand die Rolle der Frau während der Zarenzeit bereits Eingang in Teil II, so informiert ein Artikel in Teil III über die "rückständige Frau", ein Standardbegriff des russischen Kommunismus. Passend schließt sich eine Arbeit über das Scheitern der stalinistischen Kulturrevolution im sowjetischen Orient an, zu deren letztlich völlig verfehlten Hauptzielen die Entschleierung der muslimischen Frauen gehörte. Weitere Ausarbeitungen sind den Altgläubigen und ihren Anpassungen an politische Gegebenheiten sowie dem interessanten Kulturkampf zwischen Leningrader Haupt- und Untermietern gewidmet.

Im fünften Teil geht es um Trivialliteratur und Science Fiction ab der Perestroika, um die Hintergründe und den Erfolg von Putins Medieninszenierungen, deren Wirksamkeit Westeuropäer in Erstaunen versetzt, und um die Rolle des Kosakenmythos bei der Findung der nationalen Identität in der heutigen Ukraine.
Die sich anschließende Schlussbetrachtung bietet eine Zusammenschau, die dem Leser ermöglicht, sich ein differenziertes Bild der russischen Kultur zu machen.

Nicht nur die Vielfalt und inhaltliche Qualität der einzelnen Artikel sowie deren geschickte und logische Anordnung erstaunen an diesem Buch. Da manches Beitragsthema mehrmals aufgegriffen wird, meistens mit unterschiedlichem zeitlichem Hintergrund, verblüfft vor allem der Mangel an Redundanzen. Zu inhaltlichen Überschneidungen kommt es nicht.
Die Beiträge sind zwar knapp und sachlich, doch auch für Laien gut verständlich und keineswegs langweilig verfasst. Anmerkungen am Ende jedes Artikels bezeichnen die verwendeten Quellen, enthalten jedoch auch häufig weiterführende Erläuterungen.
Es werden zahlreiche Aspekte der russischen Kultur aufgegriffen, die durch die Jahrhunderte diese Kultur prägten und heute noch spürbar sind. Oft dienen konkrete Beispiele zur genauen Darstellung gewisser Entwicklungen, anhand derer sich ein unmittelbarer Einblick bietet.

Den der kyrillischen Schrift nicht mächtigen Laien mag das System, nach dem die russischen Buchstaben in lateinische übertragen wurden, nicht ganz einleuchten. Dass mit El'cin Jelzin gemeint ist, kann man eigentlich nur erraten; viele Namen erinnern in dieser Schreibung eher an kroatische als an russische Namen.
Insgesamt freilich gibt dieses Buch dem Leser die Möglichkeit, einen differenzierten Eindruck von der komplexen russischen Kultur und ihrer Geschichte zu erhalten, ohne dass er sich mit zu viel Fachjargon und einem nur auf Fachkollegen zugeschnittenen Stil herumschlagen muss: dem vermutlich unerreichbaren Ziel, Russland zu verstehen, kann man sich dank diesem Buch um ein gutes Stück annähern.

(Regina Károlyi; 12/2007)


Bianka Petrow-Ennker (Hrsg.): "Kultur in der Geschichte Russlands"
Vandenhoeck & Ruprecht, 2007. 392 Seiten.
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Dr. Bianka Pietrow-Ennker ist Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Konstanz.
Beiträger: Jörg Baberowski (Berlin), Jana Bürgers (Konstanz), Elisabeth Cheauré (Freiburg), Susi K. Frank (Konstanz), Lutz Häfner (Bielefeld), Guido Hausmann (Köln), Tom Jürgens (Konstanz), Rainer Lindner (Konstanz), Eva Maeder (Zürich), Birgit Menzel (Mainz), Jurij Murašov (Konstanz), Antonia Napp (Freiburg), Riccardo Nicolosi (Konstanz), Julia Obertreis (Berlin), Bianka Pietrow-Ennker (Konstanz), Oliver Reisner (Berlin), Rosalinde Sartorti (Berlin), Carmen Scheide (Basel), Ingrid Schierle (Tübingen), Elisabeth Vogel (Freiburg) und Dmitri Zakharine (Konstanz).