"Immerhin ein Ausweg"

Sieben wohltemperiert-unaufgeregte Erzählungen von russischen Autorinnen der Gegenwart


Die erste Erzählung mit dem Titel "Lilith" stammt von der 1951 in St. Petersburg (Leningrad) geborenen Autorin Tatjana Tolstaja. Darin lässt die Schriftstellerin das weibliche Dasein im Verlauf des 20. Jahrhunderts anhand von stimmungsvollen Darstellungen zahlreicher Zeitgeisterscheinungen wie Haartracht und Hutmode, Benehmen, Wertewandel und (Gesellschafts-)Politik Revue passieren; dies alles verpackt in zarte poetische Vergleiche, Zitate und malerische Sprache.

In "Der Tag des Pappelflaums" von Marina Palej, geboren 1955 in Leningrad, begleiten wir eine Pflegerin zur Sommerzeit durch ihren ersten Arbeitstag auf der Intensivstation, erleben die Konfrontation mit Leid und Tod. Überdies erhalten wir Einblick in leider alltägliche Missstände im Gesundheitswesen. Anfangs gleich Pappelflaum schwebend, breitet sich die nachdenklich stimmende Geschichte aus und findet mit dem regenbedingten Schwinden der watteweichen Wolken ihr Ende.

In der Erzählung der 1938 in Moskau geborenen Galina Baschkirowa mit dem Titel "Mir allein" kämpft die Geliebte eines über lange Jahre von seiner Frau gequälten, mittlerweile Verstorbenen ebenso zäh wie großzügig, was Geschenke an Beamte anbelangt, darum, die Urne mit den Überresten ihres Liebhabers ausgehändigt zu bekommen und blickt in Form eines inneren Monologes auf das gemeinsam mit dem sanften Fedja verbrachte Jahr zurück.

Ljudmila Petruschewskaja wurde 1938 in Moskau geboren. Ihre Geschichte, "Der jüngere Bruder", handelt vom eingespielt schlecht und doch eigentümlich liebevoll funktionierenden Zusammenleben einer anerkannten Dolmetscherin fortgeschrittenen Alters namens Diana mit ihrem, instinktiv seiner inneren Uhr folgenden, Sohn Wladik. Doch plötzlich wird die unbehaglich-gemütliche Alltagsroutine des eingefahrenen Gespanns, bestehend aus "Motor-Mutter" und "Bummel-Sohn" durch einen Schicksalsschlag auf den Kopf gestellt, und nichts ist mehr, wie es einmal war ...

"Der Architekt Komma Der nicht mit mir spricht": Marina Wischnewezkajas körperbefindlichkeitsgestörte Ich-Erzählerin berichtet ihrer (imaginären?) Schwester in ziemlich schnodderiger nichtsdestotrotz beeindruckend treffsicherer Sprache von kopflosen Affären während eines missliebigen Badeurlaubs ("Ein Strand ist ein Herdenrevier für Körper"). Eine locker gewobene Geschichte vom rache- oder auch eifersuchtsbedingten Diebstahl einer Gebissprothese, die anschließend im Meer versenkt wurde, von der Trennung zwischen "Körper" und "Ich", von blindem Begehren und dem Davonlaufen vor Gefühlen ...
Marina Wischnewezkaja wurde 1955 in Charkow in der Ukraine geboren.

"Die betrunkene Ratte in der Küche" von der 1965 im Nordkaukasus geborenen Autorin Viktoria Fomina erzählt von einem alten, menschenscheuen Ehepaar. Der Mann ist todkrank, die Frau pflegt ihn und unterhält sich einigermaßen unzusammenhängend mit hereinschneienden Verwandten. Alte Familienzerwürfnisse brechen auf, die Gedanken der Frau schweifen ab, wandern ruhelos umher, vermischen im Telegrammstil und auch in mittendrin abreißenden Sätzen Vergangenheit und Gegenwart, Gedanken an die Jugend und die Sorge, allein zurückzubleiben - eine Geschichte mit einer überraschenden Wendung zum Schluss.

Die 1952 geborene Autorin Irina Poljanskaja beschreibt in ihrer Erzählung "Mama" gleichermaßen einfühlsam wie bewegend das Hoffen und Bangen der Ich-Erzählerin um ihre kranke Tochter im Spital, die Verbundenheit mit der ihr beistehenden eigenen Mutter und die ersten zaghaften Schritte in die Zukunft nach dem medizinischen Notfall.

Im Anhang finden sich bio-bibliografische Notizen zu den sieben Autorinnen. Die Auswahl der Geschichten erfolgte durch Natalija Nossowa, die nach Beginn der Perestroika in Moskau eine kleine Sprachschule aufgebaut hat und seit 1997 an der Universität Freiburg ein Seminar für literarisches Übersetzen leitet. Die Texte wurden von Christiane Körner übersetzt. Sie war nach der Wende drei Jahre lang Dozentin für Deutsch beim DAAD in Moskau, ist mit einem Russen verheiratet und lebt als Übersetzerin in Frankfurt am Main.

Der Titel des Bandes wurde übrigens der Erzählung "Der Architekt Komma Der nicht mit mir spricht" entnommen: "Das ist immerhin ein Ausweg. Und vielleicht sogar ein Einstieg."
In diesem Sinne: Viel Vergnügen beim Lesen!

(K. Eckberg; 08/2003)


"Immerhin ein Ausweg"
(Russisch & Deutsch) 
Auswahl von Natalija Nossowa unter Mitarbeit von Christiane Körner.
Übersetzung von Christiane Körner, der Petruschewskaja-Erzählung von Antje Leetz.

dtv, 2003. 168 Seiten.

ISBN 3-423-09430-3.
ca. EUR 9,50.
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