Alexander Nitzberg (Hrsg.): "Selbstmörder-Zirkus"
Russische Gedichte der Moderne - Russische Dichter zwischen Aufstieg und Fall
Artisten, Texte, Attraktionen!
"Ich warte so lang
schon,
und weiß nicht worauf,
und überhaupt ist mir suizid."¹
Die eingangs zitierten Zeilen entstammen zwar nicht dem besprochenen Lyrikband, sondern einem Lied aus dem Jahr 1980, stellen jedoch immerhin eine österreichische Version des Kokettierens mit dem Suizid dar und sind insofern hier gut aufgehoben.
Alexander Nitzberg,
geboren am 29. September 1969 in einer Künstlerfamilie in Moskau, seit 1980 in
der Bundesrepublik Deutschland ansässig, widmete diese Gedichtsammlung dem 1929
geborenen deutschen Sprachartisten
Peter Rühmkorf, der seinerseits die Werke
Nitzbergs bereits mehrfach würdigte, mit den Worten: "Für Peter Rühmkorf, vom
anderen Ende des Hochseils".
Alexander Nitzberg studierte Germanistik
und Philosophie in Düsseldorf, war 1992 Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung
(Begabtenförderung) und lebt als freier Schriftsteller sowie verdienstvoller
Übersetzer in Düsseldorf. Er erhielt zahlreiche Preise und ist Mitglied im
P.E.N.
In "Selbstmörder-Zirkus", benannt nach einem Gedicht von
Alexej Krutschonych, treten russische Dichter der ersten drei Jahrzehnte des zwanzigsten
Jahrhunderts, des "Silbernen Zeitalters", auf. Vierzehn der in dieser Anthologie
vorgestellten Autoren haben Selbstmord begangen (darunter Wladimir Majakowski
und Marina Zwetajewa), drei unternahmen Selbstmordversuche (Ossip Mandelstam -
er sprang aus dem Fenster, Anna Achmatowa und Nikolaj Gumiljow), zwei stifteten
Andere zum Suizid an. Bei aller vom Motiv des Selbstmordes ausgehenden
Faszination ist jedoch auch der politische Terror jener Jahre als Faktor, der
eine Anzahl von Künstlern in den Freitod trieb, nicht zu unterschätzen.
Ein stimmiges verbindendes Element für Werke von 43 Autorinnen und Autoren ausfindig zu machen, ist eine verantwortungsvolle Herausforderung, deren Hintergründe Alexander Nitzberg in seiner Einleitung ausführt. Alexej Apuchtin, Walerij Brjussow, Nadeschda Lwowa (wurde von ihrem ehemaligen Geliebten, Brjussow, in den Selbstmord getrieben), Wladislaw Chodassewitsch, Muni (Samuil Kissin; schoss sich in den Kopf), Wadim Scherschenewitsch (seine Frau erschoss sich, er starb an Tuberkulose), Chrisanf (Künstlername von Leon Sak), Alexander Blok, Viktor Hofmann, Anna Radlowa (starb in einem Stalin'schen Konzentrationslager), Michail Kusmin, Wsewolod Knjasew (erschoss sich), Anna Achmatowa (Anna Gorenko; die Femme fatale des St. Petersburger Literaturlebens), Nikolaj Gumiljow (mit Anna Achmatowa verheiratet; wurde 1921 wegen angeblicher Beteiligung an einer konterrevolutionären Verschwörung verhaftet und erschossen), Wassilij Komarowski (starb in einer Nervenheilanstalt), Ossip Mandelstam, Alexej Losina-Losinksi (vergiftete sich mit Morphium über einem Bändchen von Verlaine, bis zuletzt seine Empfindungen notierend), Michail Senkewitsch, Wladimir Narbut (starb in einem Arbeitslager), Konstantin Waginow (litt an Tuberkulose), Rjurik Iwnew (Künstlername von Michail Kowaljow; galt als etablierter sowjetischer Dichter), Alexander Kussikow (Pseudonym von Alexander Kussikjan), Sergej Jessenin (schrieb sein Abschiedsgedicht mit eigenem Blut; erhängte sich 1925 in einem Hotel), Anatolij Marienhof, Wladimir Majakowski, Marina Zwetajewa (erhängte sich 1941), Sofia Parnok, Nikolaj Assejew, David Burliuk, Igor Sewerjanin (Künstlername von Igor Lotarjow), Iwan Ignatjew (Iwan Kasanski; schlitzte sich am Tag seiner Hochzeit im Alter von 22 Jahren mit einem Rasiermesser die Kehle auf), Welimir Chlebnikow (Künstlername von Viktor Chlebnikow; verhungerte 1922) , Boschidar (Bogdan Gordejew; erhängte sich in einem Wald), Alexej Krutschonych, Daniil Charms (Daniil Juwatschow), Sascha Tschorny (Alexander Glikberg), Nikolaj Ozup (starb 1958 an einem Herzinfarkt), Georgij Adamowitsch, Georgij Iwanow, Alexander Negora (Alexander Negorejew), Boris Poplawski, W. Ropschin (Boris Sawinkow; starb nach einem Sprung aus einem Gefängnisfenster) und Roald Mandelstam treten als Akteure in "Selbstmörder-Zirkus" auf.
Alexander Nitzberg, der "Zirkusdirektor", stellt die einzelnen Artisten in kurzen, pointierten Porträts vor, verortet sie ihm Umfeld der literarischen Strömungen und ihrer Zeitgenossen und umreißt die Besonderheiten der jeweiligen Darbietungen. Sodann stehen das Befinden und Können des einzelnen Dichters im Scheinwerferlicht der literarischen Manege: kunstvolle Übungen im Scheitern, Balanceakte zwischen Selbstüberhöhung und Todessehnsüchten, Jonglieren mit brennenden Herzen, Charakter-Schlangenmenschen, Dressurakte mit Raubtieremotionen, clowneske Schicksalsauftritte, Trapezakte ohne Netz, lyrische Ich-Salti mortali - um im Jargon zu bleiben.
Abschließend einige dunkelbunte Kostproben:
Selbstverbrennung Die Trauer einer
Aberkennung (von Alexander Kussikow) |
|
Dunkel die
Straße. Da schepperte schwach Vorhänge
schwirrten, das Licht hat gebrannt, Irgendein
Glückspilz ... - Wer kopfüber fällt, (von Wladislaw Chodassewitsch) |
|
Wir sind besiegt
am Feld des Lebens. (von Daniil Charms) |
(Irmgard Ernst; 09/2003)
Alexander Nitzberg
(Hrsg.): "Selbstmörder-Zirkus"
Übersetzt / nachgedichtet von Alexander
Nitzberg.
Reclam Leipzig, 2003. 191 Seiten.
ISBN 3-379-20081-6.
ca. EUR 8,90.
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Ergänzender Hörbuchtipp:
"Sprechende
Stimmen. Russische Dichter Lesen"
Er trat im
Zirkus auf
und brüllte, auf einem Ross galoppierend, seine Verse ins Publikum. Wie bei
Sergej Jessenin gehört ein virtuoser Vortragsstil zur Tradition russischer
Dichtung - so wie das gesprochene Wort die Wurzel jeglicher Dichtung ist. Von
Wladimir Majakowski wird berichtet, dass er in einem Restaurant unentwegt Verse
rezitierte, bis er von Ossip Mandelstam ermahnt wurde, aufzuhören.
Dass das
"lebende Wort" die Masse ergreifen solle, war der Anspruch der russischen
Avantgarde. In den Jahren um 1910 wurde die öffentliche Dichterlesung eingeführt
und erlebte bald ihre ersten Höhepunkte. Alexander Nitzberg hat in den
russischen Archiven Lyrikphonogramme entdeckt - einen besonderen Schatz bilden
dabei die Aufnahmen der großen Dichter der Moderne. Die vorliegende Auswahl
präsentiert die künstlerisch wertvollsten dieser Tonaufnahmen: Dem
deutschsprachigen Publikum wird damit zum ersten Mal die Möglichkeit geboten,
jene Lyriker, die an der Entwicklung der europäischen Poesie maßgeblich
gearbeitet haben, zu hören und mit ihrer Stimme kennen zu lernen.
DuMont, 2003. Herausgegeben,
übersetzt und mit einem Vorwort von Alexander Nitzberg (den deutschen Texten
leiht er übrigens seine Stimme).
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S
S
S
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S
S
S
Suizid
Heut' rauch' ich meinen
letzten Joint,
ich geb' mir den letzten Schuss,
ich trinke noch den Rest
vom Sekt,
und mach' dann einfach Schluss.
Ich schlaf' mit jedem, der
mich nimmt,
und sei's ein
Schäferhund.
Mir ist so froh, wie lang schon nicht,
und das hat seinen
Grund:
Denn heut' steig' ich aus,
heut' will ich raus,
mir ist der
Betrieb hier zu müd'.
Ich warte so lang schon,
und weiß nicht
worauf,
und überhaupt ist mir suizid.
Denn heut' steig' ich
aus,
heut' will ich raus,
mir ist der Betrieb hier zu müd'.
Ich warte
so lang schon,
und weiß nicht worauf,
und überhaupt ist mir
suizid.
Ich nehm' ein Vollbad in Kerosin,
ich pack' mich in
Dynamit,
ich spreng' mich aus sämtlichen Meldekarteien,
und Sie, Sie
fliegen mit!
Ja, ich nehm' ein
Vollbad in Kerosin,
ich pack' mich in Dynamit,
ich spreng' mich aus
sämtlichen Meldekarteien,
und Sie, Sie fliegen mit!
Denn heut' steig' ich
aus,
heut' will ich raus,
mir ist der Betrieb hier zu müd'.
Ich warte
so lang schon,
und weiß nicht worauf,
und überhaupt ist mir
suizid.
Und jetzt alle, noch
einmal:
Heut' steigen wir aus,
heut' woll'n wir raus,
uns ist der
Betrieb hier zu müde.
Wir warten so lang schon,
und keiner weiß,
worauf,
und überhaupt ist uns suizid ...
Ja, kommen Sie, singen
Sie mit,
ja, kommen Sie, singen Sie mit uns mit!
Ja, Sie meine ich, in
der ersten Reihe,
vielleicht ist es das letzte Mal, ja!
Heut' steigen wir
aus,
heut' woll'n wir raus,
uns ist der Betrieb hier zu müde.
Wir
warten so lang schon,
und keiner weiß, worauf,
und überhaupt ist uns
suizid ...
(Franz Morak)