Salman Rushdie: "Wut"


In einem früheren Roman Rushdies ("Mitternachtskinder"?) sagt einer seiner Helden, er sei häufig vor großen historischen Katastrofen am Ort des Ereignisses gewesen, magisch vom Bevorstehenden angezogen oder gar, als würde seine Gegenwart solches mitheraufbeschwören. Rushdie selbst verbrachte seine letzten Jahre offenbar nicht mehr in einem Versteck in Großbritannien, sondern in New York. Im ersten Sommer des neuen Jahrtausends spielend und kurz vor den Anschlägen vom 11. September 2001 fertiggestellt, nimmt sein neuer Roman diese vorweg, indem er die Stadt mit der Freiheitsstatue als kochendes Zentrum eines globalen Wutkessels zeigt. Wut als die Reaktion unterdrückten Lebens, auf seine wachsende Mechanisierung, Entwurzelung und Verkünstlichung, auf die größer und größer werdende Diskrepanz zwischen Schein und Sein, zwischen hehren, in den USA zumeist individualistischen, Idealen (für ein steuerloses Ich, dem befohlen wird, sein eigenes Steuer zu sein), glänzenden, von der Werbung mit Dauerbeschuss verbreiteten Verhaltens- und Konsumschablonen und der Wirklichkeit einer geistigen Armut und emotionalen Wüste sondergleichen, einem - nachdem die Sprache des Herzens verlorenging und das Streben nach Zivilisation in Fettsucht und Trivialität mündete - kollektiven Schaden am sehnsüchtigen Herzen, mit dessen oberflächlicher Behandlung die sogenannte Wellness- und andere Industrien Unsummen verdienen; die Wut weiters auf die USA selbst, auf ihre menschenverachtende, dem Geschäft allein verpflichtete Politik (während man sich gleichzeitig ein dreistes Gefasel über den Kampf für die Menschenrechte und gegen das Böse gefallen lässt), auf den Glauben, dass Ignoranz, von ausreichend vielen Dollars gestützt, zu Wissen wird, auf dekadente, grell zur Schau gestellte Potenz - daraus folgend in vielen Fällen Wut auf sich selbst, der Verführung dieser Potenz wider besseres Wissen erlegen zu sein; schließlich die Wut, die aus dem Ohnmachtsgefühls entspringt, nichts als ein Rädchen im Getriebe zu sein wie Charlie Chaplin in "Modern Times", von den Mächtigen (nicht den Giulianis und Clintons, denen, die im Hintergrund die Fäden ziehen) nach Belieben gegängelt zu werden wie Marionetten von einem Puppenspieler und - frei herausgesagt - die Welt von dem Wirtschaftssystem und den Bomben der USA.

New York also, von welcher Stadt wir - gesehen durch die Augen des Helden - über weite Strecken des Buches eine Chronik der Sommermonate 2000 mit all ihren Kinohits, neuen Moden, neuen Sensibilitäten, Gush gegen Bore usw. inklusive derer aller Börsenkursen mitgeliefert bekommen. Malik Solanka heißt der Held, und nach New York ist er so wie sein Autor freiwillig, und zwar mit dem mystischen Vorhaben gekommen, dass die Weltstadt ihn heilen könne, wenn er nur das Tor zu ihrem magischen, unsichtbaren, hybriden Herzen fände.
Nun, es kann Solankas Flucht auch auf eine typische Mittlebenskrise zurückgeführt werden, denn er lässt eine kluge, schöne und liebevolle Frau mit einem prächtig sich entwickelnden Knaben in London zurück. Überhaupt trägt Solanka viele Züge Rushdies - Mitte Fünfzig, ist er in Bombay aufgewachsen, hat in England (Solanka als Professor für Ideengeschichte in Cambridge) Karriere gemacht und jetzt eben New York. Zu finanziellem Wohlstand ist er aber nicht durch seine Professur gekommen, sondern durch die Erfindung des "Braingirl", einer Puppe, die in ihrer Mischung aus Schönheit, Intelligenz und Respektlosigkeit (oder, wenn man will, aus Barbie, Harry Potter und Pippi Langstrumpf) zu einem beispiellosen Siegeszug durch die Welt angetreten ist. Längst hat Professor Solanka sämtliche Urheberrechte an der Puppe verkauft, zumal sie sich immer weiter von seinem ursprünglichen Entwurf entfernt, heißt natürlich verflacht und verkitscht, hat, doch die starken ambivalenten Gefühle, die er seinem Lieblingsgeschöpf entgegenbringt, verfolgen ihn weiter. So in Gestalt einer serbischen Exilantin, die er auf seinen rastlosen Spaziergängen durch New Yorks Straßen kennenlernt, und die sich als von seiner Kreation stark beeinflusst erweist. Aber auch der andere Teil von Solankas ambivalenten Gefühlen zu Puppen kommt ins Spiel. Junge Frauen aus den besten us-amerikanischen Familien, wahre Trofäen der herrschenden Klasse, werden, ohne ansonsten beraubt oder sexuell missbraucht worden zu sein, mit betonzerschmettertem Schädel aufgefunden, und gleichzeitig quälen Solanka schreckliche Erinnerungslücken bezüglich seines nächtlichen Treibens.

Nicht nur Heilung von seinen beängstigenden Wutanfällen, sondern letzten und steten Zweck des Lebens überhaupt erhofft sich der heterosexuelle Skeptiker Solanka von der Liebe zu einer Frau (Religion gehört - wie wahrscheinlich bekannt sein wird - nicht gerade zu Rushdies Stärken). Und so wird auch eine Liebesgeschichte erzählt, die fein durchkomponiert ist und, obwohl sehr persönlich, exemplarisch Gefahren, Missverständnisse, falsche und richtige Zeitpunkte, Perversionen und natürlich die Macht der Liebe, etwa ihr Vermögen, uralte Wunden aus dem Unbewussten zu entlassen und so zu heilen, in Szene setzt.

Aus diesen Hauptmotiven entwickelt sich eine typische Geschichte Rushdies, ein tolles Spiel mit Wirklichkeit und Möglichkeit, wo Haupt- und Nebenthemen in analogischem Wechselspiel fantastische, mythologische, politische, etymologische, psychologische (usw.) und bei diesem Roman eben auch stark persönliche Gebiete befahren, was dem Autor die Möglichkeit gibt, eigene Welten, die in ihrer Multidimensionalität sehr interessante Spiegel der Wirklichkeit bilden, zu entwerfen und sie durch Fantasiereichtum und Spekulation ebenso wie durch kompromisslose Analysen und scharfe Blicke in die Welt, die so nebenbei serviert werden, zu nähren. Über die Camp David-Verhandlungen zwischen Barak und Arafat etwa wird im Nebenton der allergrößten Offensichtlichkeit behauptet, sie seien deshalb initiiert worden, damit US-Präsident Bill Clinton sein ramponiertes Image - Sie erinnern sich sicher an die Affäre - aufpolieren könne. Die serbische Freundin des Helden wiederum heißt Milosevic, und eine nicht minder interessante, buchstäblich umwerfende Frau stammt von der Südseeinsel Blefuscu, wo damals Eingeborene und vor Generationen angesiedelte Inder um die politische Vorherrschaft Krieg führten. Die Vorkommnisse auf dieser Insel ähneln wiederum frappant einer Internetgeschichte, die Solanka gerade entwirft, mit dem Science Fiction-Helden Akasz Kronos (den leider ein charakterlicher Mangel unfähig machte, das Wohl der Allgemeinheit im Auge zu behalten), abgeleitet von Kronos, dem griechischen Gott, der Zeit, die ihre Kinder verschlingt, was aber auch - siehe Zeus und midlifecrisis - auf die Dauer nicht zielführend ist. Wir machen außerdem die Bekanntschaft von schwarzen High Society-Journalisten, jüdischen Klempnern, pakistanischen Taxifahrern, reichen Jünglingen, Scheidungskünstlerinnen, Oxbridgeprofessoren menschlicherseits - göttlicherseits dürfen wir uns der Nike, der Göttin des Sieges, und comme il faut der Furien, der Göttinnen der Wut erfreuen. Wie es sich gehört haben die Furien denn auch ihren spektakulären Auftritt, dieser dramatische Höhepunkt ist allerdings, nicht nur gemessen an der tatsächlichen Stärke furiosen Flügelschlags am 11. September, sondern auch an der Fülle präziser politischer, gesellschaftlicher, psychologischer usw. Bestandsaufnahmen, die sich durch den Roman ziehen, etwas matt, weil zu persönlich und beliebig, ausgefallen. Bei aller Brillianz - und obwohl er auch einiges durch die Blume sagt - scheint es stellenweise so, als wäre Rushdie wild entschlossen, es bei einem Todesurteil in diesem Leben bewenden zu lassen, und schreckte daher zurück vor den Sätzen, die niemals vervollständigt werden dürfen, denn sie zu vervollständigen, würde bedeuten, der Wut die Zügel zu lassen, und der Krater dieser Explosion würde alles ringsum verschlingen. Ob hier nun Pessimismus spricht, Realismus oder Furcht, anzunehmen ist ohnehin, dass Salman Rushdie angesichts der zunehmenden Spannung zwischen den beiden ihm so wohlbekannten Welten bei seinem nächsten Roman den Willen aufbringen wird, sich zwischen die Stühle zu setzen und das klarste und tiefgründigste, was er in dieser Haltung sagen kann, zu sagen.

(fritz; 07/2002)


Salman Rushdie: "Wut"
Gebundene Ausgabe:
Kindler, 2002. 360 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
rororo, 2003. 384 Seiten.
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